Patrik Svensson: Das Evangelium der Aale

Ein sonderbares Tier

Bis zum Blick in die aktuelle Frühjahrsvorschau des Carl Hanser Verlags hatte ich mich nie für Aale interessiert. Weder bin ich Anglerin, noch habe ich jemals Aal gegessen, aber das auffallend schöne Cover und die originelle Idee, die Natur- und Kulturgeschichte dieses Fisches mit der eigenen Sohn-Vater-Geschichte zu verbinden, hat mich sofort fasziniert.

So viele „Aalfragen“…
Aale gibt es seit mindestens 40 Millionen Jahren und bis heute sind trotz hartnäckigster Bemühungen zahlloser Meeresforscher nicht alle seine Geheimnisse gelüftet. Drei Metamorphosen durchläuft der Aal, bevor aus dem kleinen, durchsichtigen Weidenblattlarven zunächst der durchsichtige kleine Glasaal, dann der braun-gelb-graue Gelbaal und zuletzt der Blankaal wird. Unterschiedlich lang können die einzelnen Stadien dauern und erst im letzten bilden sich Geschlechtsorgane aus, was Naturforscher wie Aristoteles oder den jungen Sigmund Freud zu Fehlannahmen bzw. zur Verzweiflung brachte. Erst im 19. Jahrhundert fand man weibliche und männliche Tiere und zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte der Däne Johannes Schmidt nach 20-jährigen Forschungsreisen die Sargassosee im nordwestlichen Teil des Atlantiks nahe den Bahamas als Geburtsstätte der europäischen Aale ausmachen, wobei bis heute weder ein lebender noch ein toter ausgewachsener Aal dort beobachtet wurde. Ungeklärt blieb bisher auch, was die Aale zu ihren langen Wanderungen bewegt und wie sie den Weg zurück zu ihrem eigenen Ursprung finden.

Das Ende der Aale?
War es jahrhundertelang nur die Neugier, die Forscher der „Aalfrage“ nachgehen ließ, so scheint es heute zur Überlebensfrage für diese durch Krankheiten, Umweltverschmutzung, Gewässerverbauung, Fischerei und die sich durch den Klimawandel verändernden großen Meeresströmungen bedrohte Gattung zu gehen:

Alle seriösen Berechnungen sprechen dafür, dass die Anzahl neu ankommender Glasaale in Europa heute nur noch ein bis fünf Prozent dessen beträgt, was aus den 1970er-Jahren bekannt ist. Wo in meiner Kindheit jedes Jahr einhundert kleine, durchsichtige Glasrütchen den Fluss hinaufschwammen, tritt heute nur noch eine knappe Handvoll diese Reise an.

Wie lange werden also Väter mit ihren Söhnen noch an schwedischen Flüssen oder anderswo Aale angeln, wie es Patrik Svensson in seiner Kindheit erlebt hat, ein Erlebnis, ohne das er und sein Vater „zusammen nicht dieselben“ gewesen wären? Werden, wie diese beiden, mit Langleinen, mit der alten Fangtechnik des „Plödderns“ oder mit Reusen experimentieren und Aale fangen, die zuvor über Tausende von Kilometern gewandert sind?

Überall Aale
Biologie und Familiengeschichte, aber auch die Bedeutung des Fischens als Kulturerbe in verschiedenen Regionen Europas, die EU-Fischereipolitik oder die Auftritte des Aals in Günter Grass‘ Die Blechtrommel, Boris Vians Die Gischt der Tage oder Graham Swifts Wasserland sind längst nicht alle Themen in diesem außergewöhnlichen Sachbuch. Nur ab und zu schießt Svensson über das Ziel hinaus, wenn er dem Aal zu sehr vermenschlicht – und sich dann meist selbst bremst -, das Rätselhafte des Aals zum Echo der Fragen nach dem eigenen Sein erklärt oder wenn ihn, den Atheisten, ein fälschlich für tot gehaltener Aal an das Wunder der christlichen Auferstehung denken lässt.

Davon abgesehen ist dieses kenntnisreiche Buch aus dem Bereich Nature Writing rundum empfehlenswert, eine gleichermaßen informative wie unterhaltsame Lektüre, die mich mit der jahrtausendealten Neugier auf dieses geheimnisvolle Tier angesteckt hat.

Patrik Svensson: Das Evangelium der Aale. Aus dem Schwedischen von Hanna Granz. Carl Hanser 2020
www.hanser-literaturverlage.de

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