Sarah Winman: Lichte Tage

  Bruchstellen und Beulen

Wer waren wir, Ellis, ich und Annie? So oft habe ich versucht, uns zu erklären, aber jedes Mal bin ich gescheitert. Wir waren alles, und dann zerbrachen wir. (S. 218)

Im vielversprechenden epilogartigen Eingangskapitel von 1950 wählt die unglücklich verheiratete, schwangere Dora Judd in einem Akt erster Auflehnung gegen ihren Mann Len als Tombolapreis statt des von ihm präferierten Whiskys eine Reproduktion von van Goghs berühmtem Sonnenblumengemälde. Dieses Bild, im Ausschnitt auf dem wunderschönen Cover zu sehen, und sein Entstehungsort, die Provence, sind für Dora, später für ihren Sohn Ellis und dessen Freund Michael,  die Verkörperung von Licht, Farbe, Hingabe, Hoffnung, Inspiration und Freiheit.

Umkehr
46 Jahre danach ist aus Ellis ein „verwahrloster Eremit“ (S. 86) geworden, der in Oxford mehr dahinvegetiert als lebt. Seine Künstlerambitionen fielen dem frühen Tod Doras zum Opfer, stattdessen entfernt er nachts als Tin Man, so der Originaltitel des 2017 erschienenen Romans, Blechmann, Beulen aus Autokarosserien. Die größte Beule seines Lebens ist der Unfalltod seiner Frau Annie 1991 nach 13 Jahren Ehe. Von ihm übrig ist „[…]nichts als ein Körper, der all seine Energie dafür aufwandte, vor etwas zu fliehen, was sich nicht in Worte fassen ließ.“ (S. 36)

Längst hängt Doras Sonnenblumenbild nicht mehr im Haus seines Vaters, wo inzwischen die empathische Carol mit ihm zusammenlebt. Als Ellis, wachgerüttelt durch eine Krankschreibung, sein Leben noch einmal ändern will und auf dem Dachboden nach der Reproduktion sucht, findet er dort auch einen vergessenen Karton mit Michaels Gedankenbuch.

Michaels Sicht
Während im ersten Teil Ellis sein Leben, seine Ehe und die besondere Freundschaft mit Michael bilanziert, spiegeln Michaels Notizen, begonnen in einer schwierigen Lebensphase 1989, seine Sicht auf den Zweierbund, auf eine Provencereise der beiden Neunzehnjährigen, als plötzlich ein ganz anderes Leben möglich schien, und die Zeit ab 1976, als sie mit Annie zum Trio wurden.

© B. Busch

Licht und Schatten
Reduziert auf die reine Romanhandlung, hat mir die natürliche, sprachsensible Ausführung über die verschiedenen Facetten von Liebe und Freundschaft in Lichte Tage durchaus zugesagt, allerdings nicht die Gesamtumsetzung. Anscheinend hat die 1964 geborene britische Schauspielerin und Autorin Sarah Winman dem Stoff für ihren dritten Roman zu Unrecht misstraut und ihn mit überflüssiger Dramatik hart an der Kitschgrenze sowie plump eingestreuten Informationen zu van Gogh und einem Gedicht von Walt Whitman angereichert. Den Figurenzeichnungen fehlen Grautöne, es hakt bei der Gewichtung einzelner Szenen und vor allem Annie bleibt als Charakter enttäuschend blass. Zwar sorgen die sprunghaften Zeitwechsel für angenehme Abwechslung, aber die oftmals platten Dialoge hielten mich auf Distanz. Poetische Landschaftsbeschreibungen aus der Provence kontrastieren mit Fäkalausdrücken und fragwürdigen Sprachbildern, etwa die „erschöpfte Schwalbe, die sanft vom Himmel fällt“ (S. 194): Entweder sie plumpst oder sie gleitet sanft. Inwiefern dies, ebenso wie unpassende Adjektive und unklare Bezüge von Pronomina, an der Übersetzung oder am Originaltext liegt, kann ich nicht entscheiden:

Ich hatte akzeptiert, dass ich nicht der Schlüssel zu seinem Schloss war. Sie sollte erst später kommen. (S. 155)

Ein sorgfältigeres Lektorat wäre dringend erforderlich gewesen, auch bei der verwirrenden Namensverwechslung ausgerechnet im ersten Satz: „Carol“ statt „Dora“.

Sein Publikum wird Lichte Tage bei Fans gefühlvoller Liebes- und Schicksalsromane garantiert finden. Für mich hat das durchaus interessante Buch über biografische Bruchstellen jedoch leider Potential verschenkt.

Sarah Winman: Lichte Tage. Aus dem Englischen von Elina Baumbach. Klett-Cotta 2023
www.klett-cotta.de

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