Sasha Filipenko: Rote Kreuze

  Eine Stimme gegen das Verdrängen und Vergessen

Wurden in Russland unter Jelzin viele Archive geöffnet, so liegen diese Dokumente über die Stalinzeit in der Putin-Ära erneut unter Verschluss und sind unzugänglich, soweit nicht in anderen Ländern Kopien vorliegen. Sasha Filipenko, 1984 in Minsk geborener, in St. Petersburg lebender Journalist, Drehbuchautor und Schriftsteller, hat für seinen Roman Rote Kreuze vor allem im Archiv des Roten Kreuzes in Genf recherchiert und macht die Korrespondenz zwischen dem Internationalen Roten Kreuz und der Sowjetregierung während des Zweiten Weltkriegs teils als Originaltexte, teils im Rahmen der Romanhandlung zugänglich. Nach Isabelle Autissiers Klara vergessen ist dieser Roman bereits der zweite über die Greuel der Stalin-Ära im Literaturfrühling 2020 für mich.

Raffinert konstruiert
Die 91-jährige Tatjana Alexejewna lebt in Minsk. Ihre fortschreitende Alzheimererkrankung erklärt sie so:

Aber jetzt, wo in meinem Leben alles vorbei ist… jetzt denkt sich Gott, dieser von mir erdachte Gott, für mich Alzheimer aus, weil er Angst hat! Er hat Angst, mir in die Augen zu schauen! Er will, dass ich alles vergesse.
Alzheimer ist die Zerstörung des Weges zu ihm, und mein Alzheimer ist die stärkste Bestätigung, dass er mich fürchtet.

Bevor die Erkrankung ihr nicht nur das Kurzzeitgedächtnis, sondern auch die Erinnerung an ihre „Biographie der Angst“ raubt, möchte sie Bericht ablegen und wählt dafür den Ich-Erzähler des Romans, Alexander, der soeben mit seiner kleinen Tochter in die Nachbarwohnung einzieht. Er ist eigentlich mit seinen eigenen Dämonen beschäftigt, doch kann er sich bald dem Gehörten nicht mehr entziehen. So sehr fesselt ihn schließlich Tatjanas Schicksal, dass er sogar über ihren Tod hinaus den letzten Puzzlestein sucht.

Eine unglaubliche Lebensgeschichte
Tatjanas Bericht ist die unglaubliche Geschichte einer Frau, die, 1910 als Tochter russischer Eltern in London geboren, 1920 mit ihrem Vater nach Russland kam und ab 1930 als Fremdsprachensekretärin für das NKID, das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten, in Moskau arbeitete. Dass ihr Mann während des Zweiten Weltkriegs in Gefangenschaft geriet, machte ihn und seine Familie gemäß Stalins Befehl Nr. 270 vom August 1941 zu Volksfeinden:

Kommandeure und Politkader, die sich im Gefecht die Dienstabzeichen abreißen und ins Hinterland absetzen oder sich dem Feind als Kriegsgefangene ergeben, sind als verwerfliche Desserteure zu betrachten, und ihre Familien sind als Angehörige von eidbrüchigen und landesverräterischen Fahnenflüchtigen zu verhaften…

Damit ist das Schicksal von Tatjana, ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter besiegelt.

Eine neue Stimme
Mit Alexander und Tatjana lässt Sasha Filipenko zwei völlig unterschiedliche literarische Figuren durch ihre Trauer und Einsamkeit zueinanderfinden. Während Tatjana stellvertretend für viele russische Opfer des 20. Jahrhunderts und dafür zurecht im Mittelpunkt steht, hätte mir für Alexander weniger Dramatik genügt. Auch hätte ich gerne noch mehr die literarische Stimme Filipenkos zulasten der journalistischen vernommen. Dass der Roman jedoch trotz aller bedrückenden Details aus der Zeit der Stalin-Diktatur und danach so gut lesbar ist, zeugt von seiner Qualität, genauso wie das in verschiedenem Zusammenhang wiederkehrende Motiv der titelgebenden roten Kreuze. Ich wünsche mir deshalb, dass bald auch die anderen drei Romane Filipenkos auf Deutsch erscheinen.

Sasha Filipenko: Rote Kreuze. Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer. Diogenes 2020
www.diogenes.ch

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