Die Frau mit dem Mond auf dem Rücken
Irland 1959. Auf einem ärmlichen Gehöft in Kelsha in den Winslower Bergen südlich von Dublin leben zwei Frauen um die 60 im Einklang mit den Jahreszeiten am Existenzminimum. Sarah Cullen ist die Besitzerin des Hofs, die ihre mittellose, arbeitsame Cousine Annie Dunne bei sich aufgenommen hat. Es ist nicht einfach, Sympathie für Annie aufzubringen, und doch empfindet man beim Lesen sofort Mitleid mit dieser vom Schicksal schwer gebeutelten Frau. Mit ihrem durch eine kindliche Polioerkrankung in Form eines Mondes verkrümmten Rücken erfüllte sich ihr Traum von einer eigenen Familie nicht, ihre einzige Liebesgeschichte ist eine Erfindung. Stattdessen hat sie die Kinder ihrer Schwester Maud aufgezogen, musste das Haus nach deren Tod aber verlassen, als ihr Schwager Matt sich neu verheiratete.
Stolz ohne Fundament
Annies Schutzschild ist ihr Dünkel. Als Nachfahrin von Gutsverwaltern und Tochter eines hohen Beamten der Dubliner Metropolitan Police wuchs sie im Dublin Castle auf und besuchte eine Nonnenschule. Nun ist sie zurück auf dem Land. Äußerlich hart, unbeugsam, unfreundlich und misstrauisch, macht sie sich vor sich selbst nichts vor:
Ich weiß, dass ich nichts bin. Mein Stolz hat kein eigenes Fundament, er ist nur ein Anbau, errichtet auf Vorurteilen, ein Wetterschutz gegen meinen Zorn. (S. 54)
Drohend steht ihr das Schicksal ihres Vaters vor Augen, der nach der Unabhängigkeit Irlands von Großbritannien dem Wahnsinn verfiel und in einer Anstalt landete, der letzten elenden Station für Obdachlose und Notleidende:
Was mich in den letzten Jahren gequält hat, war die Angst, meine letzte Zuflucht in dieser Welt zu verlieren, die linke Seite von Sarahs Bett und dieses kleine Gehöft. (S. 35)
Veränderungen
Zwei Ereignisse prägen den Sommer 1959 auf dem kleinen Gehöft. Zu Annies Freude kommen die Kinder ihres Neffen, ein sechsjähriges Mädchen und ein vierjähriger Junge, für einige Wochen zu Besuch, während ihre Eltern eine neue Existenz in London aufbauen. Sie bringen Leben, aber auch Unruhe auf die Farm, und nicht alles, was Annie an ihnen beobachtet, versteht sie. Zugleich droht Annies größte Angst wahr zu werden: Billy Kerr, ein Landarbeiter, der den beiden Frauen gelegentlich zur Hand geht, bedroht ihre Zweisamkeit mit Sarah. Was würde aus ihr, der mittellosen Bittstellerin, wenn Sarah im fortgeschrittenen Alter doch noch heiratete? Kampflos will Annie ihren Platz nicht aufgeben. Die aufsteigende Panik lässt ihre schlimmsten Charakterzüge hervortreten.
Inhaltlich wie haptisch ein wunderschönes Buch
In diesem zweiten Roman des 1955 in Dublin geborenen Sebastian Barry, der zu den bekanntesten Autoren Irlands gehört, passiert nichts Weltbewegendes, und doch wird die kleine Welt von Annie Dunne nachhaltig erschüttert. Mit ihrer Angst vor dem Verlust ihrer Zuflucht hat sie mich an den geistig zurückgebliebenen Mattis in Die Vögel von Tarjej Vesaas erinnert, der nichts so sehr fürchtet, wie von seiner Schwester verlassen zu werden und deshalb zu drastischen Mitteln greift. Wie Sebastian Barry diese kleine, im Umbruch begriffene Welt des ländlichen Irlands in der Mitte des 20. Jahrhunderts und den ambivalenten Charakter einer benachteiligten, innerlich zerrissenen Frau beschreibt und immer wieder Einblicke in die politische Vergangenheit des Landes gewährt, ist große Literatur.
Der Steidl Verlag hat dieses im Original 2002 erschienene Buch, hervorragend übersetzt von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser, 2021 in einer wunderschönen Leinenausgabe veröffentlicht.
Sebastian Barry: Annie Dunne. Aus dem Englischen von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser. Steidl 2021
steidl.de