Sorj Chalandon: Verräterkind

  Wahrheit und Schuld

Der 1952 in Tunis geborene Sorj Chalandon gehört nicht nur zu den wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellern Frankreichs, sondern auch zu den renommiertesten Journalisten. In seinen zehnten Roman, Verräterkind, mit dem er auf der Shortlist des Prix Goncourt 2021 stand, fließen beide Tätigkeiten ein, basiert doch ein Teil dieses autofiktionalen Werks auf seiner preisgekrönten Reportage für die linksliberale Tageszeitung Libération über den Prozess gegen Klaus Barbie im Jahr 1987, den Gestapo-Chef und „Schlächter von Lyon“. Mit diesem weltweit aufsehenerregenden Gerichtsverfahren verknüpft Sorj Chalandon private Ermittlungen gegen seinen Vater, der ihn über seine Vergangenheit während des Zweiten Weltkriegs stets belogen hatte.

Ein Held, der keiner war
Prägend für die Kindheit des Ich-Erzählers waren eine unscheinbare, furchtsame Mutter und ein gewalttätiger, manipulativ mit eigenen Heldentaten prahlender Vater. 1962, als der Sohn zehn war, geriet dieses Heldenepos durch eine Bemerkung des Großvaters jäh ins Wanken:

Dein Vater stand im Krieg auf der falschen Seite. (S. 28)

Die Bürde des „Verräterkindes“ drohte ihn fortan zu ersticken:

Du durftest mich nicht einfach mit deiner Geschichte allein lassen. Sie war zu schwer zu tragen für einen Sohn. (S. 231/232)

Fünf Uniformen, vier Desertionen
Während der Ich-Erzähler aus dem Gerichtssaal in Lyon berichtete und die erschütternden Aussagen der Überlebenden und Hinterbliebenen hörte, versuchte er gleichzeitig, die Lügengebilde des als Zuschauer anwesenden, in Barbie-Verehrung erstarrten Vaters zu entlarven. Dokumente aus der Hinterlassenschaft seiner Tante und illegal angeeignete Unterlagen eines Prozesses gegen den Vater wegen „Schädigung der Landesverteidigung“ sollten Klarheit bringen, die Konfrontation damit sein Schweigen brechen. Fünf Uniformen trug er in vier Jahren, die der französischen Armee, der Vichy-Kollaborationsarmee, als Freiwilliger der von der Wehrmacht zum Kampf gegen den Bolschewismus gegründeten „Légion Tricolore“, der Waffen-Grenadier-Brigade der SS „Charlemagne“ und schließlich der Résistance, viermal desertierte er. Was davon auf Überzeugung, was auf kühler Berechnung und was auf dem schlichten Wunsch, auf der Seite der Sieger zu stehen, beruhte, blieb sowohl im Prozess 1945 als auch für den Sohn und damit für uns Leserinnen und Leser unklar. Gesichert scheint, dass der Vater immer ein „Leichtgewicht ohne viel Talent“ (S. 243) war, dass er nicht mehr als die Grundschule besucht und keinen Beruf hatte, als er sich mit 17 Jahren freiwillig zur Armee meldete, und dass er schon immer ein notorischer Lügner und Hochstapler war.

© B. Busch

Gerichtsreporter und Sohn
Verräterkind
ist ein autofiktionaler Roman, dessen Fiktionalität vor allem in der Parallelität der beiden Handlungsstränge besteht. Während die Teile über den Barbie-Prozess und der Exkurs zum Schicksal der Kinder von Izieu mich mit ihrer einerseits reportagenhaften Klarheit, andererseits großen Emotionalität und atmosphärischen Brillanz vollkommen überzeugt haben, rückte die verzweifelte Wahrheitssuche des Sohnes für mich zunehmend in den Hintergrund, verblasste das Dickicht der Rollenwechsel dieses unbelehrbaren Charakters. Auch die Frage, ob Eltern ihren Kindern tatsächlich Rechenschaft schulden, vermag ich nicht so kategorisch zu bejahen wie Sorj Chalandon. Mehr noch als durch die Taten des Vaters fühlte sich der Ich-Erzähler verletzt durch dessen fehlendes Vertrauen und damit einen weiteren Verrat:

Du bliebst eine offene Frage und dein Krieg der reine Irrsinn. So konnte ich dich weder verstehen noch dir verzeihen. (S. 209)

Ein zweifellos wichtiger, in Teilen grandioser Roman, der zeigt, wie die Vergangenheit fortwirkt.

Sorj Chalandon: Verräterkind. Aus dem Französischen von Brigitte Große. dtv 2022
www.dtv.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Sorj Chalandon auf diesem Blog:

Chalandon

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