Tarjei Vesaas: Der Keim

  Abgründe

Seit dem Gastlandauftritt Norwegens auf der Frankfurter Buchmesse 2019 veröffentlicht der außergewöhnliche Guggolz Verlag das Werk des mehrfach für den Literaturnobelpreis vorgeschlagenen Tarjei Vesaas (1897 – 1979). In der hervorragenden Neuübersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel erschienen zunächst zwei seiner späten Romane: 2019 Das Eis-Schloss von 1963, 2020 Die Vögel von 1957. Beide gehören zu meinen Lesehighlights der vergangenen Jahre, entsprechend war ich etwas skeptisch, ob das nun erschienene Buch Der Keim, sein Durchbruch 1940, ihnen gleichkommen würde – völlig grundlos, wie sich schnell erwies. Wie Tarjei Vesaas psychologisch fundiert menschliche Beweggründe und Abgründe zeichnet, die Natur, aber auch Licht und Dunkelheit als Handlungsträger einbezieht, religiöse Bezüge und vielleicht sogar, je nach Interpretation, politische einflicht, Szenen aus verschiedenen  Perspektiven wiederholt und Unschärfen setzt, das ist einfach großartige Literatur.

Die Inselgesellschaft
Ort der Handlung ist eine kleine, grüne, fruchtbare Insel, die geschützt in einer Meeresbucht liegt. Ihre Bewohnerinnen und Bewohner leben auskömmlich von Landwirtschaft, Viehzucht und etwas Fischerei. Der größte Hof mit dem ertragreichsten Obstgarten gehört der Familie Li. Karl und Mari führen dort mit ihren Kindern Rolv und Inga ein arbeitsames, zufriedenes Leben, auch wenn Rolv die Sehnsucht nach einem Studium in der Stadt umtreibt und Inga mit der Unruhe des Erwachsenwerdens kämpft. Karl Li studierte einst auf dem Festland, kehrte aber als Hoferbe pflichtschuldig zurück. Von seinen übermütigen Plänen zeugt die riesige rote Scheune, der nie ein entsprechendes Wohnhaus folgte und die zu allerlei Spott Anlass gibt. Hier nimmt Der Keim seinen Anfang: im Schweinestall. Nur auf den ersten Blick ist es bei den säugenden Muttersäuen und der gebärenden Jungsau idyllisch:

Dennoch lauerte mitten in dieser schläfrigen Ruhe etwas Bedrohliches. Was man da sah, dem war nicht ganz zu trauen. Allzu glänzend standen lange Reißzähne aus den Schweineschnauzen hervor. (S. 10)

Der Fremdling
Währenddessen kommt ein Fremder auf die Insel, Andreas Vest, der nach einem traumatischen Ereignis Frieden und Heilung sucht. Ziellos spaziert er umher, mehr oder weniger skeptisch von den Einheimischen beäugt. Er wird Zeuge, wie im Schweinekoben Gewalt um sich greift. Sein mühsam unterdrücktes Trauma bricht wieder auf und es kommt zur Katastrophe, auf die wiederum ein Gewaltausbruch der Inselbewohnerinnen und -bewohnen folgt – drei sich bedingende Orgien von Raserei in kurzer Abfolge, dreimal verwandeln sich vorher friedliche Lebewesen urplötzlich in erbarmungslose, blutrünstige Täter. Binnen kürzester Frist werden zivilisierte Geschöpfe zu barbarischen Rächern und Menschen vergessen ihre moralischen Grundsätze.

© B. Busch

Hoffnung
Hilfe im anschließenden Chaos kommt ausgerechnet von Kari Nes, die ihren Mann und zwei Söhne auf See verlor und seither ziellos umherwandert, grübelt und alle schreckt. Sie spürt, was die Einzelnen und die Gemeinschaft brauchen und führt die von Schuld, Reue und Fassungslosigkeit Niedergedrückten in die kathedralenhafte Scheune. Auch Rolv, den allgemeinen Sündenbock, überredet sie zur Heimkehr und verhindert ein noch größeres Unglück in dieser düsteren Nacht, die allmählich dem Tag weicht:

Aber jetzt richteten sie sich wieder auf, innerlich gestärkt. Im Staub schien ein Keim verborgen gewesen zu sein. (S. 217)

Der Keim ist trotz seiner nur gut 200 Seiten ein großer Roman über individuelle und kollektive Schuld, Reue, Sühne, Trauma, Brutalität, gruppendynamische Prozesse, Tod, Trauer, Sprachlosigkeit, aber auch Hoffnung, unnachahmlich, symbolstark, komprimiert, zeitlos und einfach großartig erzählt.

Tarjei Vesaas: Der Keim. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Mit einem Nachwort von Michael Kumpfmüller. Guggolz 2023
www.guggolz-verlag.de

 

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