Thilo Wydra: Ingrid Bergman – Ein Leben

Der Mensch hinter dem Mythos

Als ich die neue Biografie über Ingrid Bergman zum ersten Mal in Händen hielt, bin ich zunächst erschrocken: 750 Seiten, davon 100 Seiten Anhang mit Anmerkungen, Zeittafel, Filmographie, Biographie, Personen- und Filmtitelregister, und über ein Kilogramm schwer – war das nicht ein bisschen übertrieben? Doch schon nach wenigen Seiten war ich im Bergman-Fieber, denn was und wie der freie Autor und Journalist Thilo Wydra, der in Mainz und Dijon Komparatistik, Germanistik, Kunstgeschichte und Filmwissenschaft studiert hat, über Ingrid Bergmans Berufs- und Privatleben fein austariert zu berichten weiß, hat mich in den letzten zehn Tagen vollauf begeistert. Neben der Lektüre habe ich mir ein paar ihrer Filme, die ich meist bereits kannte, angeschaut, und hier liegt vielleicht der größte Gewinn für mich. Da Thilo Wydra sich nicht auf die Wiedergabe von Filminhalten  beschränkt, sondern die Geschichten hinter den Verfilmungen und kleinste Details bis hin zu Mimik und Gesten hochspannend erklärt, habe ich die Filme mit ganz anderen Augen gesehen, konnte die Leistungen von Regie, Schauspielern und Drehbuchautoren besser würdigen und hatte insgesamt einen deutlich höheren Genuss.

Ingrid Bergman wurde am 29.08.1915 in Stockholm geboren. Die deutsche Mutter starb bereits 1918, ihr schwedischer Vater 1929. Schon als Kind stand als Berufswunsch Schauspielerin fest. Nach einem kurzen Intermezzo an der Schauspielschule des Kungliga Dramatiska Teatern in Stockholm avancierte sie schnell zu Schwedens beliebtestem Filmstar. 1938 drehte die zeitlebens unpolitische Ingrid Bergman in Berlin ihren einzigen UFA-Film und ging anschließend 1939, bereits verheiratet mit dem schwedischen Zahnarzt Dr. Petter Lindström und der kleinen Tochter Pia in die USA, wo sie unter Vertrag des Produzenten David O. Selznick ihre erfolgreichste Dekade erlebte. Filme wie „Casablanca“ (1942), „Wem die Stunde schlägt“ (1943) „Das Haus der Lady Alquist“ (1944), die drei Hitchcock-Verfilmungen „Ich kämpfe um dich“ (1945), „Berüchtigt“ (1946) und „Sklavin des Herzens“ (1949) sowie „Johanna von Orléans“ (1948), ihre lebenslange Traumrolle, machten sie in den USA nicht nur zum Star, sondern auch zur überirdischen Leinwandheiligen. Umso heftiger wurde der totale Bruch 1949 aufgenommen, als sie dem Studio-Hollywood und ihrer Familie den Rücken kehrte für ein Leben mit dem italienischen Filmregisseur Roberto Rossellini. Nach der zunächst unehelichen Geburt des Sohnes war das Echo verheerend: Im US-Senat beschimpfte man sie für die „sittenwidrige Affäre“ als „grauenvolle Vertreterin des weiblichen Geschlechts“, sie wurde geächtet und alle sechs Filme, die sie zwischen 1949 und 1955 mit Rossellini drehte, wurden finanzielle Flops und fielen bei der Kritik durch. Aus der 1957 geschiedenen Ehe gingen neben dem Sohn Robertino auch die Zwillinge Isabella und Ingrid Isotta Rossellini hervor. Erst nach der Trennung konnte Ingrid Berman wieder Filme mit anderen Regisseuren drehen, darunter „Anastasia“ (1956), ihre Wiederauferstehung in den USA, „Lieben Sie Brahms“ (1961), „Die Kaktusblüte“ (1969) und 1974, als sie bereits die Diagnose Brustkrebs erhalten hatte, „Mord im Orientexpress“. 1967 konnte sie erstmals nach acht Jahren ihre Tochter Pia wiedersehen, 1968 heiratete sie den schwedischen Theaterproduzenten Lars Schmidt und ließ sich mit ihm bei Paris nieder. Die letzten Lebensjahre verbrachte sie nach ihrer dritten Scheidung in London, spielte mehr denn je Theater und drehte 1978 unter Ingmar Bergman und mit Liv Ullmann ihren letzten Kinofilm: „Herbstsonate“. Sie starb 1982 an ihrem 67. Geburtstag.

Die sehr kurze, „persönliche Nachbemerkung“, die ganz zur vollkommen zurückgenommenen und uneitlen Schreibweise des Autors passt, führt seine Quellen auf: persönliche Gespräche mit drei der zunächst ablehnend gestimmten Bergman-Kinder (Pia, Ingrid Isotta und Isabella) und dem Stiefsohn Renzo Rossellini sowie ein unbeschränkter Zugang zum nicht-öffentlichen Nachlass, der in 187 Kisten in den Wesleyan Cinema Archives lagert.

Thilo Wydra hat daraus eine uneingeschränkt empfehlenswerte Biografie gemacht, die den Star Ingrid Bergman nicht überhöht. Er würdigt ihre Stärken wie Natürlichkeit, Schönheit, Geradlinigkeit, ihre Kunst der Mimik mit sparsamen Mitteln, ihren Humor, ihr Sprachentalent, ihre nie ermüdende Produktivität und die Treue zu ihren Freunden wie Ernest Hemingway, Alfred Hitchcock, Jean Renoir oder Cary Grant und verschweigt ihre Affären, ihre Unruhe, ihre Zerrissenheit zwischen der stets im Vordergrund stehenden Schauspielerei und der Familie sowie ihre Unsicherheit in privaten Dingen nicht.

So kann ich abschließend sagen, dass diese Biografie keine Seite zu lang und kein Gramm zu schwer ausgefallen ist und das absolut schlicht gehaltene Cover und der unspektakuläre Titel Ingrid Bergmans Charakter, so wie Thilo Wydra sie schildert, absolut gerecht werden.

Thilo Wydra: Ingrid Bergman – Ein Leben. DVA 2017
www.randomhouse.de

Ein Kommentar

  1. Eine Ingrid Bergman Biographie befindet sich im Moment noch auf meiner to-read liste, aber eher ihr „Mein Leben“, wobei dieses Buch sich nach einer guten komplementär Lektüre anhört.
    Wandert mal auf meinen Merkzettel.

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