Ein Herzensbuch – nicht nur dank Urmel & Co.
„Der Herzfaden?“ fragt Hatü.
„Der wichtigste Faden einer Marionette. Nicht sie wird mit ihm geführt, sondern mit ihm führt sie uns. Der Herzfaden einer Marionette macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht.“ (S. 64)
Ein für mich unwiderstehliches Thema hat Thomas Hettche für seinen neuen Roman Herzfaden gewählt: die Augsburger Puppenkiste. Ich selbst bin mit deren zauberhaften Marionetten und Geschichten aufgewachsen und sehe mit Freude, wie die Geschichten Jung und Alt bis heute begeistern. Urmel, Kater Mikesch, Jim Knopf und die Katze mit Hut sind aus dem Leben meiner Familie jedenfalls nicht wegzudenken. Und wenn die Holzköpfe der Figuren uns zuzublinzeln, zu erröten oder kokett zu lächeln scheinen, weiß ich nun, dass der Herzfaden dafür verantwortlich ist.
Allerdings beschränkt sich Thomas Hettche bei weitem nicht auf die bewegte Geschichte dieses Marionettentheaters. Dass der von Matthias Beckmann wunderschön illustrierte Roman über zwei Handlungsstränge verfügt, wird bereits an den beiden Druckfarben rot und blau deutlich. Während die blauen Abschnitte im Präsens die Geschichte der Puppenschnitzerin und Marionettenspielerin Hannelore Marschall-Oehmichen, genannt Hatü (1931 – 2003), Tochter des Gründers Walter Oehmichen, erzählen, spielen die roten, fantastischen Teile im Jetzt, erzählt in der Vergangenheitsform:
Die Vergangenheit ist die Gegenwart und die Gegenwart die Vergangenheit. Die Zeit löst sich in der Dunkelheit auf. In einer Geschichte setzt sie sich wieder zusammen. (S. 193)
Das Mädchen mit dem iPhone bleibt namenlos. Sie leidet unter der Scheidung der Eltern und der Besuch mit dem Vater im Puppentheater kratzt am Selbstbewusstsein der Zwölfjährigen. Weinend läuft sie davon und landet in dem sehr alten Haus voller geheimer Türen und Treppen auf dem Dachboden bei den Marionetten. Nicht nur, dass die Puppen plötzlich ihre Fäden abstreifen und sie selbst auf deren Größe schrumpft, es taucht auch noch eine riesenhafte Frau auf, die sich als Hatü, Mitbegründerin der Puppenbühne, vorstellt. Während Hatü ihr die Geschichte der Augsburger Puppenkiste und ihre eigene erzählt, begreift die wieder lebendig gewordene Puppenschnitzerin gleichzeitig allmählich, warum dieses Mädchen zu ihr gefunden hat. Alles hängt zusammen mit der ersten Puppe, die sie während der Kinderlandverschickung geschnitzt hat, dem Kasperl mit dem bösen Gesicht, vor dem sie sich immer gefürchtet hat. Das Mädchen wiederum kann den Dachboden nicht verlassen, bevor es nicht den Kasperl vertrieben und dessen geheimnisvolle Geschichte erfahren hat.
Kunstvoll bettet Thomas Hettche in diese magische Erzählung Hatüs Erinnerungen ein. Von den ersten Puppen, die der Vater, ein Schauspieler und Landesleiter der Reichstheaterkammer, aus dem Krieg mitbringt, über das erste Wohnzimmer-Theater, den Puppenschrein, mit der selbstgebauten Spielbrücke und allen Puppen, die allesamt beim Luftangriff auf Augsburg am 25.02.1944 verbrennen. Nach dem Krieg nimmt die Familie einen neuen Anlauf und am 26.02.1948 lädt die Augsburger Puppenkiste mit „Der gestiefelte Kater“ zur Premiere ein. Allerdings ist dieser Teil des Romans weit mehr als die Chronik von Deutschlands berühmtestem Puppentheater, sondern Kindheit im Krieg und Jugend im Nachkriegsdeutschland, Grauen, aber auch Wiederauferstehung, zu der Walter Oehmichen beitrug:
Wir müssen die Herzen der Jugend erreichen, die von den Nazis verdorben wurden. Und die Fäden, mit denen wir sie wieder an Kultur anknüpfen, das sind die Fäden meiner Marionetten. (S. 128)
Herzfaden ist ein Roman für Jugendliche wie Erwachsene, den man auf verschiedenen Ebenen lesen und verstehen kann. Wie schön, dass er auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2020 steht. Ich drücke die Daumen!
Thomas Hettche: Herzfaden. Mit siebenundzwanzig Zeichnungen von Matthias Beckmann. Kiepenheuer & Witsch 2020
www.kiwi-verlag.de
Weitere Rezensionen zur Longlist des Deutschen Buchpreises 2020 auf diesem Blog:
Ja, ich habe sie auch geliebt: Kater Mikesch, Frau Wutz und das Urmel, Jim Knopf… deshalb finde ich die Idee für den „Herzfaden“ wunderbar, auch die Ausführung
(inklusive der fabelhaften Ausstattung) hat mir über weite Strecken gut gefallen. Mit der Handlung auf dem Dachboden kam ich dagegen nicht so gut zurecht, ich hätte stattdessen lieber noch mehr über die tatsächliche Geschichte der Familie Oehmichen gehört… aber das ist sicher Geschmacksache!
Mir ging es so, dass die Handlung auf dem Dachboden im Verlauf der Geschichte immer wichtiger wurde. Das Parabelhafte und die märchenhafte Atmosphäre haben mir sehr gut gefallen. Aber du hast natürlich recht, alles Geschmacksache!