Toni Morrison: Sehr blaue Augen

  Selbsthass als Folge von Rassismus

Was geschieht Anfang der 1940er-Jahre mit schwarzen Mädchen in Lorain, Ohio, dem Geburtsort der Autorin Toni Morrison (1931 – 2019), wenn Shirley Temples blonde Locken und blaue Augen als ultimatives Schönheitsideal gelten? Wenn die Bonbonverpackung ein ebensolches Kind ziert, sie beim Einkaufen übersehen werden und die Lehrerin hellere Kinder bevorzugt? Wenn die eigene Mutter sie für hässlich hält, während sie die Kinder ihrer weißen Arbeitgeberfamilien vergöttert? Wenn sie zu Weihnachten blonde, blauäugige Babypuppen bekommen?

Foto: © B. Busch. Cover: © Rowohlt

Claudia, Frieda, Pecola
Ins Zentrum ihres Debütromans Sehr blaue Augen, erstmals 1970 als The Bluest Eye erschienen und 2023 in deutscher Neuübersetzung von Tanja Handels im Verlag Rowohlt wieder aufgelegt, stellt die 1993 als erste schwarze Frau mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Toni Morrison drei Mädchen. Jede leidet auf ihre Art unter dem Trauma ihrer vermeintlichen Hässlichkeit. Claudia Mac Teer, die temperamentvolle Neunjährige und Ich-Erzählerin der ein Jahr umfassenden Rahmenhandlung, entzieht sich dem allgemeinen Zauber, zerstört die verhassten Puppen und würde in ihrer Wut am liebsten dasselbe mit weißen Mädchen tun. Ihre um ein Jahr ältere, besonnenere Schwester Frieda verehrt zwar Shirley Temple, kommt aber dank ihres Elternhauses besser zurecht als die elfjährige Pecola Breedlove, die aus weit ärmlicheren, liebloseren Verhältnissen stammt und in einem heruntergekommenen Ladenlokal ein freudloses, einsames Dasein fristet:

Sie wohnten dort, weil sie arm und Schwarz waren, und sie blieben dort, weil sie sich für hässlich hielten. Ihre Armut war althergebracht und lähmend, aber keineswegs einzigartig. Ihre Hässlichkeit hingegen schon. Niemand hätte sie davon überzeugen können, dass sie nicht auf schonungslose und aggressive Weise hässlich waren. (S. 58)

Für die permanent gedemütigte Pecola, die im Laufe des Romans – wie man sofort erfährt – von ihrem eigenen Vater ein Baby bekommt, wird der Wunsch nach blauen Augen zur Obsession:

Schon vor geraumer Zeit war Pecola zu dem Schluss gekommen, wenn nur ihre Augen anders wären, […], genauer gesagt: schön, dann wäre auch sie selbst ganz anders. […] Jeden Abend, ausnahmslos, betete sie um blaue Augen. (S. 67/68)

Unterschiedliche Zeitebenen und Erzählperspektiven
In die Rahmenhandlung eingeschoben sind Einblicke in Lebensläufe von Erwachsenen, rechtlosen schwarzen Frauen und Männer, die erlebte Ohnmacht in Gewalt gegen ihre Frauen und Kinder ummünzen.

Der schwarzen Lebenswirklichkeit stellt Toni Morrison kurze Textschnipsel aus einer US-Fibel über die Bilderbuchwelt einer weißen Mittelschichtfamilie gegenüber.

Ein Roman mit Erkenntnisgewinn
Nicht „bequeme Ausflucht ins Mitleid“ (S. 11) wollte Toni Morrison laut ihrem Vorwort von 2008 auslösen, sondern die schwarze Leserschaft „zu einer Reflexion ihrer eigenen Rolle“  (S. 11) zwingen. Im ebenso exzellenten Nachwort schildert die afrodeutsche Autorin Alice Hasters, wie das bei ihr gelang, als ihr die Mutter mit 13 Jahren den Roman gab:

Das Buch setzte meiner Sehnsucht, weißer auszusehen, etwas entgegen. So blieb es bei einem heimlichen Wunsch, den ich mit meinem Spiegelbild teilte, und wuchs nicht weiter in ein verzweifeltes Verlangen, das meinen Alltag diktierte. (S. 266)

Obwohl ich nicht zur Haupt-Zielgruppe gehöre, hat mir dieser gar nicht plakative Roman, der zum aufmerksamen Lesen und Nachdenken zwingt, großen Erkenntnisgewinn beschert. Nicht nur als Signal gegenüber der weißen Bevölkerung, wie ich bisher dachte, sondern als Aufforderung zu schwarzem Selbstbewusstsein war der Slogan „Black is beautiful“ der Bürgerrechtsbewegung ab 1966 gedacht. Die in der Neuübersetzung gewählte Großschreibung des Adjektivs „schwarz“ schafft in meinen Augen allerdings neue Unterschiede anstatt Diskriminierung abzubauen. Dass aber, wie Claudia und Frieda erkennen, für manche Blumen der Boden nicht taugt und deshalb ausgetauscht oder verändert werden muss, ist die zweifellos zeitlose Quintessenz dieses herausragenden modernen Klassikers.

Toni Morrison: Sehr blaue Augen. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Mit einem Nachwort von Alice Hasters. Rowohlt 2023
www.rowohlt.de

 

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