Michela Marzano: Falls ich da war, habe ich nichts gesehen

  Vergessen ist keine Lösung

Seit September 2022 regiert mit Giorgia Meloni in Italien die am weitesten rechts stehende Politikerin seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Wie alle Ultrarechten weltweit kämpft sie für ein nationalistisch-identitäres Weltbild sowie gegen Migration, vaterlandslose Linke, Aufweichung des traditionellen Familienbilds und Genderideologie.

Bereits kurz vor der Wahl von 2022 erschien in Italien Stirpe e vergogna, in der deutschen Übersetzung von 2023 Falls ich da war, habe ich nichts gesehen. Die italienische, in Frankreich lebende und lehrende, 1970 in Rom geborene Philosophin, Autorin und ehemalige Abgeordnete des Partito Democratico Michela Marzano nimmt darin den Ausgang der Wahl vorweg und erklärt, wie es zu einer Regierung kam, die „nichts als eine postmoderne Version des Neofaschismus ist“ (S. 263):

Es wurde niemals wirklich aufgeräumt. (S. 232)

Kollektives Gedächtnis? Eher kollektives Vergessen. (S. 233)

Eine schockierende Entdeckung
Im Jahr 2019 entdeckte Michela Marzano zufällig, dass das in ihrer Familie sorgsam gepflegte, von ihr nie angezweifelte Narrativ der linken Orientierung auf einer Lüge beruht: Nicht nur war ihr Großvater Arturo Marzano (1897 – 1976) Mitglied der Duce-Partei, was vielleicht für einen Richter und Staatsanwalt noch erklärlich wäre, er gehörte vielmehr zu deren allerersten Anhängern und war als Teil der berüchtigten Squadristi am Marsch auf Rom am 28.10.1922 beteiligt. Nach dem Krieg nur kurzzeitig aus dem Staatsdienst entfernt und ab Ende 1949 wieder als Staatsanwalt tätig, setzte er sich in den 1950er-Jahren als Abgeordneter der national-monarchistischen Partei gezielt für das Vergessen ein:

Die Gnade […] muss die Erinnerung an die jüngste Vergangenheit in eine undurchdringliche Finsternis des Vergessens hüllen, sie in die tiefsten Abgründe der Amnesie stürzen […]. (S. 251)

Collage: © B. Busch. Cover: © Eichborn Verlag

Doch nicht allein Interesse am Großvater trieb Michela Marzano bei ihren Recherchen an:

Als ich anfing zu schreiben, wollte ich da nicht eigentlich mein eigenes Leben erforschen, die Gewaltausbrüche und die Angst meines Vaters ergründen, […], um meiner eigenen Wahrheit auf die Spur zu kommen? Den Schmerz verstehen, den ich seit meiner Kindheit in mir trage und dessen Konturen trotz all meiner Versuche, ihn zu ergründen, immer unscharf geblieben sind? (S. 44)

Besonders die schwierige Beziehung zu ihrem Vater, dem linksliberalen Wirtschaftsprofessor Ferruccio Marzano mit dem fünften, lange totgeschwiegenen Vornamen Benito, und ihre eigene, von Versagensängsten, Magersucht, Suizidversuchen, 20-jähriger Psychotherapie und fehlendem Mut zur Mutterschaft geprägte Biografie, durchziehen das Buch in seinen vier Teilen „Schande“, „Schuld“, „Vergessen“ und „Vergebung“. Überwiegend liest man ein (auto-)biografisches Sachbuch, gelegentliche ergänzt durch Dialoge, die so oder ähnlich stattgefunden haben könnten.

Fehlende Puzzleteile
Trotz aller Forschung in den reichlich vorhandenen großväterlichen Hinterlassenschaften sowie in Archiven bleibt das Bild doch unvollständig. Keine Hinweise fanden sich leider auf die Beweggründe des Großvaters für seinen frühen Anschluss an Mussolini, die mich sehr interessiert hätten, wohingegen mir der autobiografische Teil manchmal zu redundant war.

Die Grundaussagen des Buches zur transgenerationalen Traumatisierung und zu den Auswirkungen versuchter Geschichtstilgung auf die Gegenwart gelten über die Grenzen Italiens hinaus. Dass man dazu noch viel über die italienische Geschichte ab 1914 erfährt, unter anderem, weil der deutschen Ausgabe nicht die italienische Originalfassung, sondern die um Ergänzungen für Nicht-Italiener angereicherte, von der Autorin selbst ins Französische übersetzte Version zugrunde liegt, macht das mit viel persönlicher Betroffenheit, in Gendersprache verfasste Buch umso lesenswerter.

Michela Marzano: Falls ich da war, habe ich nichts gesehen. Übersetzung aus dem Französischen von Lina Robertz. Eichborn 2023
www.luebbe.de/eichborn

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