Vicki Baum: Vor Rehen wird gewarnt

  Eine Frau, die bekommt, was sie will

Vicki Baum (1888 – 1960) war eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Weimarer Republik. Als Jüdin emigrierte sie bereits 1931 nach Kalifornien und schrieb im Exil nur noch auf Englisch. Zwölf Jahre nach ihrem größten Romanerfolg Menschen im Hotel erschien 1951 Vor Rehen wird gewarnt, soeben vom Arche Verlag in einer sehr schönen Hardcover-Ausgabe neu aufgelegt.

Das Reh
Ann Ambros
, geborene Ballard, verwitwete Hopper, ist das titelgebende „Reh“, nicht nur wegen ihrer sanften Augen, sondern auch wegen ihres zarten, hilflosen, herzerweichenden Auftretens, einer perfekten Selbstinszenierung. Kaum jemand durchschaut, was hinter dieser Fassade steckt: eine Frau, die mit stählerner Sanftmut Menschen aus dem Wege räumt, die bei aller zur Schau gestellten Bescheidenheit stets im Mittelpunkt steht und eine psychopathische Lügnerin ist, bewandert darin, Mitleid zu erregen und sich selbst zu bemitleiden – kurz: eine faszinierende Person für alle, die nicht unmittelbar mit ihr zu tun haben und die ihr nur, wie ich als Leserin, bei ihrem Treiben staunend zusehen.

Rahmenhandlung…
Alle drei Teile des Romans beginnen mit der Rahmenhandlung, einer Zugfahrt von San Francisco nach Boston, die die 65-jährige Ann mit ihrer Stieftochter Joy unternimmt. Joys jüngerer Halbbruder wird aus dem Krieg zurückerwartet und die Mutter möchte ihn persönlich empfangen. Joy ist eines der Hauptopfer von Anns versteckten Intrigen und inzwischen hasserfüllt. Die Absicht ihrer Stiefmutter, die Ehe ihres vergötterten Bruders zu zerstören, bringt das Fass zum Überlaufen und kurzerhand wirft Joy Ann zu Beginn des Romans aus dem fahrenden Zug:

Wie hält man eine Ann Ambros davon ab, Unheil zu stiften? Nicht durch Überredung, nicht durch Vernunft, noch weniger durch einen Appell an ihre Anständigkeit. Mit Gewalt also?  (S. 33)

… und Rückblenden
In Rückblenden erzählt Vicki Baum von Anns Leben und der Spur der Verwüstung, die sie überall hinterließ. Sie manipulierte die Menschen in ihrem Umfeld, überzeugt, im Recht zu sein, bekam fast immer, was sie wollte, und wurde doch nie glücklich. Selbst als sie nach dem Tod ihrer Schwester endlich ihren Schwager, den Wiener Geiger Florian Ambros, heiraten kann, bemerkt der bitter:

… aber du interessierst dich ja für nichts als für dich selbst, das steht immer zwischen dir und deinem Glücklichsein, deinem und meinem und unserem. (S. 87)

Anns Trickkiste scheint unerschöpflich, wenn es darum geht, ihren Willen durchzusetzen, Skrupel sind ihr fremd. Und doch ist sie keine Figur von Ingrid Noll, ihr manipulatives Geschick, ihre Fähigkeit, Menschen zu zerbrechen, und ihre geschickte Tarnung reichen aus, um bestehende Hindernisse aus dem Weg zu räumen:

Im Allgemeinen war sie viel zu egozentrisch, um sich zu bekümmern oder zu begreifen, was in anderen Menschen vorging; aber mit einem unheimlichen Instinkt wusste sie immer die verwundbare Selle zu finden, dort, wo der schärfste Schmerz und der dauerndste Schaden zugefügt werden konnte. (S. 326)

Vor Rehen wird gewarnt ist eine meiner schönsten Entdeckungen in diesem Literaturfrühling, ein äußerst unterhaltsamer, psychologisch raffinierter, spannender, bisweilen humorvoller Roman über eine ungewöhnliche Frau und ein amerikanisches Gesellschaftsporträt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Vicki Baum: Vor Rehen wird gewarnt. Aus dem amerikanischen Englisch von Carl Heinz Ostertag. Arche 2020
www.buecherwege.de/arche.htm

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