Weiterleben nach dem Undenkbaren
Das Haus in der Claremont Street, Debütroman der Deutsch-Kanadierin Wiebke von Carolsfeld, beginnt mit einem erschütternden Ereignis: Der neunjährige Tom wird Zeuge, wie sein Vater zuerst die Mutter Mona mit einem Golfschläger tötet und sich dann erschießt. „Wir sterben“ kann Tom dem Notruf noch mitteilen, dann verstummt er für lange Zeit.
Tom ist nicht der einzige trauernde Hinterbliebene in der Einwandererfamilie Michailovitsch. Genau wie er sind auch Monas drei Geschwister, die schon vor der Tragödie mit zahlreichen Problemen zu kämpfen hatten, nicht nur zutiefst erschüttert, sie werden auch aus unterschiedlichen Gründen von großen Schuldgefühlen gequält. „Unglaublich-verantwortungsbewusst-wenn-auch-ein-bisschen-langeweilig-Sonya“ hat nach dem Selbstmord der Mutter ihre jüngeren Geschwister aufgezogen, ist verheiratet, beruflich erfolgreich, leidet jedoch unter ihrem unerfüllten Kinderwunsch. „Du-kannst-doch-so-nicht-in-aller-Öffentlichkeit-rumlaufen-Rose“ ist komplett chaotisch, alleinerziehend und lebt mit ihrem pubertierenden Sohn im ehemaligen kleinen Elternhaus in der Claremont Street im Zentrum von Toronto. „Warum-bist-du-schon-wieder-von-der-Schule-geflogen-Will“ (S. 160), 30-jähriges Nesthäkchen und Weltenbummler, ist nie erwachsen geworden. Trotz guten Willens kann sich niemand adäquat um Tom kümmern, denn durch die neue Situation sind die alten Konflikte und Probleme lediglich überlagert, keineswegs gelöst. Ganz im Gegenteil werden neue Baustellen eröffnet – zum Nachteil Toms.
Verschiebung des Schwerpunkts
Dieser Umstand ist zugleich mein Hauptkritikpunkt an dem leicht lesbaren Roman: Anstatt um das traumatisierte Kind, geht es mir viel zu sehr um die nur bedingt interessanten Geschichten der Erwachsenen, angefangen bei Beziehungsproblemen und –problemchen, Lügen, Betrug, unsozialem Verhalten und Spielsucht bis hin zu einem chronisch verstopften Wasserabfluss. Wären da nicht eine fähige Psychotherapeutin und ein wohlwollender Sozialarbeiter, um Toms Genesungsaussichten stünde es sehr schlecht. Zum Glück erkennen Tanten und Onkel das nach einem knappen Jahr selbst:
Wenn Tom eine Chance haben sollte, wenn sie alle eine Chance haben wollten, dann mussten sie lernen, dass eine Familie aus mehr bestand als nur aus Trauer und Verrat. (S. 323)
Damit wendet sich, wenn auch plötzlich, erfreulicherweise für alle das Blatt. Der kurze Ausblick in Toms Zukunft war mir dann aber eindeutig zu viel Happy End. Zwar habe ich den Roman alles in allem nicht ungern gelesen, aber er ging mir trotz der dramatischen Ausgangssituation unerwartet wenig nahe. Vielleicht waren meine Erwartungen nach dem starken Anfangskapitel mit der Schilderung des tödlichen Familiendramas aus Kindersicht einfach zu hoch. Erfüllt wurden sie nur, wenn Tom im Fokus stand – und das war leider zu selten.
Ein Betrag zum kanadischen Gastlandauftritt
Dass die Autorin Wiebke von Carolsfeld vor ihrer Auswanderung nach Kanada und erfolgreichen Karriere als Filmemacherin einst ihre Ausbildung zur Verlagskauffrau bei Kiepenheuer & Witsch machte, ist eine schöne Geschichte am Rande. Inzwischen schreibt sie auf Englisch und ihr Roman wird im Katalog Kanadas zum Gastlandauftritt 2020/21 auf der Frankfurter Buchmesse geführt.
Ein Wort noch zur Herstellung: Mit dem gelungenen Cover fällt das Buch positiv ins Auge. Nicht wertig wirkt dagegen das gelbstichige, leicht reißende Papier mit wenig Kontrasten bei schlechter Beleuchtung.
Wiebke von Carolsfeld: Das Haus in der Claremont Street. Aus dem Englischen von Dorothee Merkel. Kiepenheuer & Witsch. 2020
www.kiwi-verlag.de
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