Ingeborg Arvola: Der Aufbruch

  Schmelztiegel Nordkalotte

Über die Sámi, das indigene Volk der Nordkalotte, habe ich seit 2023 mehrere Romane von Angehörigen dieser Volksgruppe gelesen. Von den Kvenen, finnischen Einwanderern in die norwegische Finnmark und ihren Nachfahren, hatte ich dagegen auch bei einer Reise durch Lappland und die Finnmark 2024 bis zu einer Veranstaltung mit der Kvenin Ingeborg Arvola im Rahmen des Gastlandauftritts Norwegens auf der Leipziger Buchmesse 2025 noch nie gehört. Der erste Band ihrer Eismeer-Trilogie mit dem Titel Der Aufbruch ist inspiriert vom Leben ihrer Ur-Urgroßmutter und wurde 2022 mit dem renommierten norwegischen Brageprisen ausgezeichnet.

Ingeborg Arvola (links) bei der Klima-Buchmesse im Rahmen der Leipziger Buchmesse 2025 im Gespräch mit Gabriele Haefs (rechts). © B. Busch.

Nordwärts
Der Roman spielt in den Jahre 1859 bis 1862, als viele armen Finninnen und Finnen zur Saisonarbeit an die fischreiche Küste der norwegischen Finnmark zogen, oder dorthin auswanderten:

Vielleicht ist Gehen einfacher als Bleiben […] Es ist nicht leicht in der alten Heimat, wenn der Hunger an die Tür klopft. (S. 374)

Unter denen, die ihr Glück weiter nördlich suchten, war die 35-jährige Brita Caisa Seipajærvi mit ihrem elfjährigen Sohn Aleksi und dem dreijährigen Heikki. Ihr Aufbruch war allerdings nicht nur der Armut geschuldet, sondern auch ihrer Scham und Wut über die gegen sie als ledige Mutter verhängte demütigende Kirchenstrafe. Brita, deren Schönheit ebenso legendär war wie ihre für Tiere und Menschen heilenden Hände, verließ die Bauerngemeinde Sodankylä im finnischen Lappland 1859 in der Absicht, einen soliden Versorger für sich und ihre Söhne zu finden:

Ich brauche keine verheirateten Männer, ich brauche einen Mann zum Heiraten. […] Ein Fischer aus Pykeijä soll es sein. (S. 66)

Ingeborg Arvola: Der Aufbruch. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: btb.

Wider alle Vernunft
Kurz vor Pykeijä, norwegisch Bugøynes, am Varangerfjord, wo ihr älterer Bruder sich niedergelassen hatte, verdingte sie sich vorübergehend als Magd bei Mikkel Aska und seiner Frau Gretha, einem kinderlosen kvenischen Paar mit einem wohlhabenden Hof in Neiden. Entgegen aller Vorsätze verliebte sich die leidenschaftliche Brita in den Hofbesitzer und er sich in sie. Als die bemitleidenswerte, verzweifelte Gretha sie wegen Ehebruchs anzeigte, drohte ihnen bei der für Herbst 1862 anberaumten Gerichtsverhandlung Gefängnis und Mikkel der Verlust seines Hofs. Der um sein Zukunftsversprechen betrogene Aleksi kehrte sich wütend von seiner Mutter ab und viele versuchten, Brita zur Raison zu bringen, doch zu spät:

Mikko sitzt in meinem Herzen wie eine Frühlingsblume im Moor. (S. 188)

Lieder vom Eismeer
Der Aufbruch ist die dramatische Geschichte einer verbotenen Liebe zwischen einer willensstarken, unbeugsamen, leidenschaftlichen Frau und einem verheirateten Mann vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Umbruchs im Schmelztiegel verschiedener Ethnien, Kulturen und Sprachen. Kvenen trafen auf alteingesessene Sámistämme, die um Rentierweiden, Holz, Beeren und Fische kämpften, und norwegische Kaufleute, die sich an der Unwissenheit beider Gruppen bereicherten. Ingeborg Arvola taucht tief in das Alltagsleben der Nordländer ein, beschreibt die Natur, harte Arbeit auf den Höfen und beim Fischfang, Bräuche, Obrigkeit, Religiosität, Aberglauben und die schwelenden Konflikte sowohl innerhalb der Gruppen, als auch gegeneinander, die vor dem Ting häufig mit dem Verlust von Hab und Gut endeten. Die nüchterne Schilderung der harten Lebensbedingungen steht in scharfem Kontrast zu poetischen Naturbeschreibungen und der obsessiven Liebesbeziehung. Nicht Tempo und Action, sondern historische Genauigkeit, glaubhafte Charaktere und viel Atmosphäre prägen den Roman. Herausfordernd sind die zahlreichen Figuren und Orte mit unterschiedlichen Namensvarianten, eine Schwierigkeit auch für die Autorin, wie sie in ihrem Nachwort schreibt.

Ich bin sehr gespannt auf die Fortsetzung der Trilogie, deren Originaltitel Sanger fra ishavet, Lieder vom Eismeer, den Charakter des Textes noch besser treffen.

Ingeborg Arvola: Der Aufbruch. Aus dem Norwegischen von Katharina Martl. btb 2025
www.penguin.de

 

Weitere Rezensionen auf diesem Blog zu Romanen, die in der Nordkalotte spielen:

   

 

Weitere Rezension zu  einem Roman, der mit dem renommierten Brageprisen in der Kategorie „Belletristik für Erwachsene“ ausgezeichnet wurde:

2000

Interview mit der Übersetzerin Hanna Granz

Die Übersetzerin Hanna Granz war nach ihrem Studium der Skandinavistik, Romanistik und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Bonn und Greifswald zunächst im Literaturhaus Leipzig tätig. Seit 2012 arbeitet sie als freiberufliche Übersetzerin, vor allem aus dem Schwedischen, aber auch aus dem Norwegischen und Dänischen.

Mir ist Hanna Granz erstmals 2020 als Übersetzerin von Patrick Svensson und seinem Buch Das Evangelium der Aale begegnet, einer Mischung aus autobiografischer Vater-Sohn-Geschichte und Natur- sowie Kulturgeschichte dieses Fisches und den dementsprechend anspruchsvoll zu übersetzenden biologischen Details.

Mit großer Freude habe ich auch die von ihr übersetzten Bücher von Alex Schulman gelesen und weiß, seit ich drei seiner damals noch unübersetzten autobiografischen Romane im Original gelesen habe, wie perfekt sie den Ton dieses von mir sehr geschätzten Autors trifft.

Mein letzter von Hanna Granz ebenfalls sehr einfühlsam ins Deutsche übertragener Roman war Das Echo der Sommer der samischen Autorin Elin Anna Labba.

Hanna Granz. © privat.

Liebe Frau Granz, Sie übersetzen vor allem aktuelle Literatur, haben aber auch schon Klassiker von Selma Lagerlöf neu übersetzt. Was ist generell anders bei der Arbeit mit Klassikern? Würden Sie gerne mehr Klassiker übersetzen?

Anders ist natürlich, dass man in eine ganz andere Zeit eintaucht, und entsprechend einen etwas anderen Sprachwerkzeugkasten braucht. Wenn es Neuübersetzungen sind, gibt es Vorgänger:innen, denen man Respekt zollt, von denen man sich aber gleichzeitig absetzen möchte. Es heißt ja, Originaltexte altern nicht, Übersetzungen dagegen schon. Man muss also eine Balance zwischen Zeitkolorit und etwas modernerer Sprache finden, durch die der Text einerseits sicher verortet und andererseits einem heutigen Lesepublikum zugänglicher gemacht werden kann. Das finde ich sehr reizvoll.

Sind Ihre Übersetzungen grundsätzlich Auftragsarbeiten oder haben Sie auch schon Bücher „entdeckt“ und Verlagen vorgeschlagen?

Die meisten sind Auftragsarbeiten – entweder kommen Verlage von sich aus auf mich zu, oder weil Kolleg:innen mich empfohlen haben. Einen eigenen Vorschlag unterzubringen, ist mir bisher nur ein einziges Mal gelungen – oder sagen wir zweimal, beim zweiten aber auf Umwegen und vor allem dadurch, dass jemand wusste, dass ich bereits mit dem Text gearbeitet hatte. Wenn es gelingt, ist das jedes Mal ein Glücksfall.

Lesen Sie die zu übersetzenden Bücher, bevor Sie mit der Arbeit beginnen? Oder lassen Sie sich überraschen?

Ich lese eigentlich immer zuerst das ganze Buch. Erstens, weil ich wissen will, worauf ich mich einlasse. Und zweitens, weil es manchmal einen Twist in der Geschichte gibt, auf den ich beim Übersetzen vorbereitet sein muss – gerade, wenn er sich vorher bereits unterschwellig ankündigt. So etwas muss man meiner Meinung nach vorwegnehmen können, man darf nicht reinstolpern. Und bei der Übersetzung dann weder zu viel gucken lassen, noch etwas unterschlagen – das gelingt nur, wenn man vorher Bescheid weiß.

Bei „Die Überlebenden“ von Alex Schulman gibt es gegen Ende eine überraschende Wendung, bei der ich zurückgeblättert habe, um mich zu vergewissern, dass ich nichts überlesen hatte. Ging es Ihnen bei der Übersetzung ähnlich? Mussten Sie eventuell einzelne Stellen überarbeiten? Waren Sie ebenso überrascht?

Genau, das ist so ein Beispiel! Da war es wichtig, vor dem Übersetzen Bescheid zu wissen. Beim Lesen hat mich die Wendung genauso überrascht wie Sie. Weil ich dann aber vorbereitet war, konnte ich gut damit umgehen, es gewissermaßen innerlich vorbereiten, sodass ich nichts überarbeiten musste.

Bei den Büchern von Alex Schulman kommen einige Szenen immer wieder in leicht abgewandelter Form vor. Mir als Leserin macht das großen Spaß, wie geht es Ihnen damit?

Oh, das freut mich, dass man es auch so sehen kann! Als Übersetzerin liest man sehr kritisch, und ich habe dann oft gehadert und gedacht: Na, Mensch, das hat er doch schon mal geschrieben, das kann ich doch so nicht bringen! – Aber dann habe ich mich erinnert, dass es mir bei Romanen von z.B. Paul Auster auch oft so ging, dass ich beim Lesen Dinge wiedererkannt habe, und dass es da eher wie ein Nach-Hause-Kommen war, etwas Vertrautes. Das ist im Grunde auch das Tolle, wenn man eine:n Autor:in über Jahre immer wieder übersetzt: Man kennt dann seine Welt, in diesem Fall den Schulman-Kosmos, und kann da gleich wieder eintauchen – das schenkt Souveränität und Sicherheit. Darüber hinaus ist man bereits mit dem Ton, mit dem Sound vertraut und kann auch diesen sozusagen wiederaufnehmen. „Endstation Malma“ fällt da vielleicht ein bisschen raus, aber die anderen, die autobiografischen oder autofiktionalen Romane, die haben diesen ganz großen Wiedererkennungseffekt.

Ihre Übersetzung von „Das Echo der Sommer“ hat mir besonders gut gefallen, einerseits wegen der poetischen Abschnitte aus der Sicht eines Sees, andererseits wegen der guten Verständlichkeit bezüglich der Belange der Sámi. Mussten Sie dafür Sekundärliteratur über deren Lebensweise, Geschichte, Politik und Kultur heranziehen? Ist eine solche Zusatzarbeit angesichts des Zeitdrucks bei Übersetzungen und des Seitenhonorars überhaupt möglich?

Gerade bei dieser Übersetzung war es mir aufgrund enormen Zeitdrucks kaum möglich, Extra-Recherchen zu betreiben. Aber ich habe alles versucht und auf die Mittel zurückgegriffen, die mir in der Kürze der Zeit zur Verfügung standen. Zum einen habe ich die Autorin gebeten, mir Fotos zu schicken, um diese Landschaft im Vorher-Nachher wirklich bildlich vor mir sehen zu können. Zum anderen gab es zufällig kurz vor der Manuskript-Abgabe eine Ausstellungseröffnung zu samischer Kultur im Museum europäischer Kulturen in Berlin. Da ging es vor allem um die Frage der Restitution, also, wie man Ausstellungsstücke behandelt, und ob es in manchen Fällen nicht angemessener wäre, sie den entsprechenden indigenen Völkern zurückzugeben – vieles ist ja einfach geraubt worden. Gleichzeitig ist es so wichtig, sich die Dinge anschauen und sich ein Bild von fremden Kulturen machen zu können. Schön für mich war bei dieser speziellen Veranstaltung, dass auch gejoikt wurde, das ist ja auch ein zentrales Element der samischen Kultur und immer wieder Thema im Roman, dass die Sámi ihre Landschaften, ihre Seen und ihr Erleben ganz allgemein singen und dadurch weitergeben. Das war wirklich schön und wichtig, dass ich das auf diese Weise erleben konnte. Und dann wurden im Museum natürlich auch viele Alltagsgegenstände und Kleidungsstücke gezeigt, das hat ebenfalls beim Übersetzen geholfen. Kurz zusammengefasst: Die Zeit ist meist viel zu knapp – aber es wäre toll, so etwas intensiver betreiben zu können, und ich persönlich nutze jede Gelegenheit, um mir lebendige Eindrücke zu verschaffen.

Versuchen Sie, vor, während oder nach der Übersetzungsarbeit Kontakt zu den Autorinnen und Autoren aufzunehmen, soweit sie noch am Leben sind?

Ja, eigentlich immer, und in 95 % der Fälle stehe ich auch tatsächlich in Kontakt mit ihnen. Das ist hilfreich und unheimlich belebend; ein bisschen vielleicht, wie wenn man ein fremdes Kind betreut und sich vorher bei der Mutter/beim Vater über dessen Besonderheiten und Bedürfnisse erkundigt … Man übernimmt ja die Verantwortung für den Text und muss genau wissen, wie er tickt, wie er gemeint ist, was er braucht usw., und ob man bestimmte Signale oder Marker tatsächlich richtig versteht. Es entsteht dabei oft auch ein enges Vertrauensverhältnis, sehr respektvoll und immer bemüht um die Sache. Ich liebe diesen Austausch sehr.

Können Sie neben den genannten drei von Ihnen übersetzte Bücher empfehlen, die Leserinnen und Leser dieses Blogs unbedingt kennenlernen sollten?

Johanne Lykke Holm ist eine besondere Autorin, die ich Ihren Leser:innen gerne ans Herz lege, und wenn man Krimis mag, die ein bisschen mehr sind als bloß Genre-Literatur, dann empfehle ich wärmstens Tove Alsterdal. Ihre Romane haben immer eine wahre Begebenheit in der näheren oder ferneren Vergangenheit als Hintergrund und sind wahnsinnig gut recherchiert – es macht großen Spaß, sie zu übersetzen und zu lesen! Ein sehr erhellendes Buch war aber auch „Die Autistinnen“ von Clara Törnvall. Da habe ich ebenfalls viel gelernt – über die besondere Form des Autismus bei Frauen, aber auch über gesellschaftliche Strukturen und ihre oft einschränkenden Auswirkungen auf den Einzelnen.

Können Sie Übersetzungsaufträge ablehnen, wenn Ihnen die Bücher nicht zusagen?

Ja. Wenn ich z.B. gar keinen Zugang zum Text finde, dann lehne ich Aufträge ab. Manchmal mit Bauchgrimmen, wenn die Auftragslage gerade dünn ist, aber auch hier gilt: Ich habe als Übersetzerin eine Verantwortung, ich muss dem Text gerecht werden können. Und ihn irgendwie mögen, sonst wird es nichts.

Die Kunst des Übersetzens ist nicht nur eine mechanische Aufgabe, sie erfordert auch ein hohes Maß an Kreativität und Flexibilität. Wie finden Sie die Balance zwischen Texttreue, Anpassung kulturellen Nuancen und dem Jonglieren mit verschiedenen Bedeutungen?

Durch Vorstellungskraft, Lebenserfahrung und Lesen in der Ziel-, also meiner Muttersprache Deutsch. Und natürlich, indem ich immer wieder versuche, mir Sprache, Kultur und gesellschaftliche Zusammenhänge im Herkunftsland des Textes zu vergegenwärtigen. Je mehr man eintauchen kann, desto besser; anschließend muss man aber auch auftauchen, einen Schritt zurücktreten und den Text den Gepflogenheiten der Zielsprache anpassen. Oft sind es ganz kleine Nuancen, die aber eben doch den Unterschied machen, und bei denen man durch ein ganz bisschen Drehen an einem Schräubchen plötzlich viel mehr Authentizität bekommt. Eine alte Übersetzerweisheit lautet (etwas abgewandelt): Man muss die einzelnen Szenen nachtanzen können, dann funktioniert der Text.

Nur sehr wenige Verlage nennen die Übersetzerinnen und Übersetzer auf dem Cover. Wird nach Ihrer Ansicht den Übersetzerinnen und Übersetzern literarischer Werke zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt? Was würden Sie sich wünschen?

Ich glaube, da ticken wir Übersetzer:innen nicht anders als andere auch. Natürlich wünschen wir uns, gesehen und in unserer Arbeit gewürdigt zu werden. Auch sehe ich mich eben nicht als Dienstleisterin, sondern als Künstlerin: Ich schaffe ein fremdsprachiges Werk in meiner Sprache neu. Das hat sehr viel mit Kreativität und Menschlichkeit zu tun. Anschließend mit auf dem Cover zu stehen, wäre schlicht eine adäquate Anerkennung meiner Leistung. Einige Verlage machen das inzwischen ja auch schon. Ähnliches gilt übrigens auch für Rezensionen. Manchmal liest man ja begeisterte Pressestimmen, die sich gerade über die Sprache lobend äußern. Da denke ich dann oft: Ja genau, und das ist mein Verdienst. Wäre schön, das gewürdigt zu wissen.

In Zeiten von KI kann eine Frage nach ihrer Nutzung im Bereich literarischer Übersetzungen nicht fehlen. Nutzen Sie KI für Ihre Arbeit? Sehen Sie Ihren Beruf langfristig in Gefahr?

KI ist seit einer Weile ein großes Thema in unserer Branche, das natürlich auch Verunsicherung mit sich bringt. Was, wenn die Tools immer besser werden, was, wenn wir nicht mehr gebraucht werden? Umso wichtiger scheint mir, immer wieder den künstlerischen und menschlichen Faktor hervorzuheben, uns als Übersetzer:innen sichtbar zu machen und zu sagen: Seht her, das ist es, was uns ausmacht und weshalb es wichtig ist, dass Übersetzung, aber auch Sprache insgesamt, in unserer, in menschlicher Hand bleibt. Allein schon wegen der vielen Manipulationsmöglichkeiten, die diese ganzen Tools (auch politisch übrigens!) bieten. Das hat wieder mit der Verantwortung zu tun. Ich würde mal behaupten, KI hat kein Ethos, keine Moral, kein Verantwortungsgefühl. Wir dagegen schon, das macht uns als Menschen aus. Ich habe noch nie mit KI oder Sprachmodellen gearbeitet, es ist (bis auf Google-Recherchen) reine Handarbeit, und darauf bin ich auch ein bisschen stolz.

Was sind Ihre nächsten Projekte?

Derzeit sitze ich an einem Krimi, als nächstes kommt – tatsächlich! Sie dürfen sich freuen! – ein neuer Schulman.

Ganz herzlichen Dank für Ihre Zeit!

Es war mir ein Vergnügen!

 

Rezensionen zu Büchern in der Übersetzung von Hanna Granz auf diesem Blog:

    Schulman 

 

Hier geht es zu weiteren Interviews mit Übersetzerinnen und Übersetzern.

Sigrid Boo: Dienstmädchen für ein Jahr

  Perspektivwechsel

Das Leben neigt dazu, ganz anders auszufallen, als man sich das gedacht hat. (S. 244)

Sigrid Boo (1898 – 1953) gehörte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts neben Sigrid Undset (1882 – 1949) zu den erfolgreichsten norwegischen Schriftstellerinnen. Anders als bei ihrer Landsfrau, die 1928 den Literaturnobelpreis erhielt, galten ihre Bücher als leichte Unterhaltung und gerieten bald in Vergessenheit. Der Übersetzerin Gabriele Haefs ist die Wiederentdeckung ihres Romans Dienstmädchen für ein Jahr zu verdanken, der für das Theater adaptiert und dreimal verfilmt wurde. Die Herausgeberinnen Magda Birkmann und Nicole Seifert, von der das sehr informative Nachwort stammt, haben ihn als zehnten Band in ihre Reihe rororo Entdeckungen der  zu Unrecht vergessenen Autorinnen des letzten Jahrhunderts aufgenommen.

Dienstmädchen für ein Jahr erschien in Norwegen 1930 und spielt zur Zeit seines Entstehens. Mit dem Zugang zu Universitäten 1884, dem umfassenden Wahlrecht 1913 und der finanziellen Gleichstellung der Ehepartner 1927 hatten sich die traditionellen Rollenbilder verändert.

Die Schatten der Weltwirtschaftskrise
Helga Breder, sorglose 19-jährige Ich-Erzählerin und Tochter aus gutsituiertem Fabrikantenhaus, macht zu Beginn des Romans ihrem Ärger und ihrer Irritation Luft: Ihre geplante Parisreise nach glänzend bestandenem Abitur muss wegen finanzieller Engpässe verschoben werden:

Tatsächlich hatte Vater es sich in letzter Zeit zur Gewohnheit gemacht – ich würde es Unsitte nennen – über Geld und Ausgaben und darüber zu reden, was man sich leisten kann und was nicht. (S. 8)

Die Wette
Als in lockerer Freundesrunde und in Anwesenheit ihres umschwärmten, gutaussehenden und „bisweilen auch überaus angenehmen“ (S. 9) Beinahe-Verlobten Jørgen Krogh darüber diskutiert wird, wieweit das moderne junge Mädchen „etwas taugt oder nicht“ (S. 15), akzeptiert Helga spontan die verrückte Wette ihres Freundes:

Ich wette einen Diamantring, dass du es nicht schaffst, ein Jahr lang für andere zu arbeiten und von deinem Lohn zu leben! (S. 18)

Inkognito findet sich Helga, trotz ihrer nur vagen Vorstellungen von Hausführung und Kochen, alsbald als Dienstmädchen wieder. Ein Jahr lang muss sie ihre Identität verstecken, den Küchen- statt des Vordereingangs benutzen, Mopp und Kochlöffel schwingen, bei Tisch bedienen, anstatt bedient zu werden, und auf ihre geliebte „Schickmacherei“ (S. 122) verzichten.

Nach einem kurzen Intermezzo bei einer prekären Osloer Familie landet sie 40 Kilometer entfernt auf Gut Vinger bei Familie Bech. Eine aufregende Zeit voller beruflicher Herausforderungen, Versteckspiel und persönlicher Weiterentwicklung beginnt, wobei auch die Liebe in Gestalt des geheimnisvollen Chauffeurs Hans Frigård mit den umwerfend blauen Augen nicht zu kurz kommt. Letztere manifestiert sich vor allem in Helgas Empfänglichkeit für die Natur – ein wunderbarer Kunstgriff, um die Kitschgefahr zu bannen.

Sigrid Boo: Dienstmädchen für ein Jahr. Collage: © B. Busch. Cover: © Rowohlt Kindler.

Fast 100 Jahre alt und kein bisschen verstaubt
Dienstmädchen für ein Jahr
besteht vorwiegend aus 19 Briefen, die Helga während ihres Abenteuers an ihre Freundin und Vertraute Grete schreibt. Diese überaus schwungvoll und munter geschriebenen Berichte in der angenehm frisch wirkenden Übersetzung von Gabriele Haefs machen den Roman zu einem absolut hinreißenden, kurzweiligen und keineswegs banalen Leseerlebnis. Mit Helgas messerscharfem Blick in die oberen und unteren Etagen des Guts, aber auch auf sich selbst, zu Papier gebracht mit überaus spitzer, oft witziger Feder, habe ich mich bestens unterhalten. Ihr Durchhaltevermögen, obwohl der Diamantring längst seine Anziehungskraft verloren hat, ihre veränderte Sicht auf Geld und die Privilegien ihres Herkunftsmilieus, ihr Talent als Stehaufmännchen und ihre neuen Erwartungen an das Leben haben mir außerordentlich gut gefallen und lassen den fast 100 Jahre alten Roman alles andere als verstaubt erscheinen.

Sigrid Boo: Dienstmächen für ein Jahr. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Herausgegeben von Magda Birkmann und Nicole Seifert. Rowohlt Kindler 2025
www.rowohlt.de

Jean-Baptiste Andrea: Was ich von ihr weiß

  Das Geheimnis der rätselhaften Pietà

Zwei Zeitebenen mit unterschiedlicher Erzählperspektive wechseln sich im 500 Seiten starken Roman Was ich von ihr weiß von Jean-Baptiste Andrea gekonnt ab. Die erste setzt 1986 ein. Personal erzählt aus der Sicht des Abtes der abgelegenen piemontesischen Sacra di San Michele, erfahren wir von den letzten Stunden im Leben des einzigen Mitbewohners ohne Gelübde, Michelangelo Vitaliani, genannt Mimo. Der Bildhauer lebt seit etwa 40 Jahren in der Abtei, wo der Vatikan seit 1951 sein Hauptwerk, eine skandalumwitterte, rätselhafte Marmor-Pietà, im Keller vor den Augen der Öffentlichkeit versteckt hält. Während der Abt sich anhand von Unterlagen zu dem mysteriösen Kunstwerk zurückerinnert, blickt der sterbende Ich-Erzähler im zweiten Erzählstrang chronologisch auf sein bewegtes Leben bis zu seinem völligen Rückzug aus der Welt zurück.

Zwei Welten
Michelangelo Vitaliani wurde 1904 als Kind italienischer Auswanderer in Frankreich als Sohn eines Bildhauers geboren, arm, kleinwüchsig und, als wären diese Eigenschaften nicht schon Anlass genug für Spott, mit der Bürde eines monumentalen Namens. Nach dem Tod des Vaters schickte ihn seine Mutter 1916 zu einem Steinbildhauer nach Italien. Drei glückliche Umstände halfen dem jungen Mimo, die demütigenden Sklavenjahre bei einem brutalen Lehrmeister im ligurischen Bergdorf Pietra d’Alba zu überleben: seine Liebe zur Bildhauerei, Freundschaften mit etwas älteren Jugendlichen und die Bekanntschaft mit der gleichaltrigen Viola Orsini, Tochter der ortsansässigen wohlhabenden und einflussreichen Adelsfamilie. Während Mimo von einer Künstlerkarriere träumt, träumt Viola vom Fliegen. Das hochintelligente, freigeistige und vielseitig interessierte Mädchen passt nicht in ihre vorgezeichnete Rolle und will ihre Ketten sprengen. Ab dem Sommer 1918 sind Mimo und Viola unzertrennlich, allerdings heimlich, denn Mimo bleibt wegen seines sozialen Stands der Zugang zur Villa Orsini verwehrt – bis er dank von den Orsini-Brüdern vermittelten vatikanischen und faschistischen Großaufträgen in die Künstlerelite Italiens aufsteigt.

Jean-Baptiste Andrea: Was ich von ihr weiß. Fotos: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Luchterhand.

Ein Stoff mit mehr Potential
Der 1971 geborene französische Autor und Filmemacher Jean-Baptiste Andrea erzählt die Geschichte der tiefen, jedoch spannungsgeladenen Freundschaft zwischen Mimo und Viola vor dem Hintergrund der politischen Turbulenzen Italiens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Aufstieg, Machtübernahme und Fall des Faschismus. Wie bei einem Filmemacher zu erwarten, ist die Dramaturgie sorgfältig geplant und durchdacht, der Spannungsbogen um die rätselhafte Pietà wird erst spät aufgelöst und ein Rädchen greift passgenau ins andere. Allerdings ist die Erzählweise konventionell, es wird mehr geredet und erzählt als gezeigt und die klischeehaften Figuren haben wenige Ecken und Kanten, weshalb trotz ihres zu Herzen gehenden Schicksals stets eine Mauer zwischen ihnen und mir stand. Leider kommen für mich auch die politischen Bezüge, die Verantwortung des vermeintlich unpolitischen Künstlers in der Diktatur, die Rolle des Vatikans im Holocaust, zu der es nur wenige beschönigende Sätze gibt, sowie Mimos künstlerischer Entwicklungsprozess zu kurz. Mehr Zeitgeschichte und Atelier, dafür weniger Spelunke, hätte mir besser gefallen.

Was ich von ihr weiß ist ein leicht und flüssig zu lesendes, abgesehen von einigen Längen unterhaltsames Buch. Die Auszeichnung mit dem renommierten Prix Goncourt für den besten französischsprachigen Roman des Jahres 2023 überrascht mich allerdings, denn der Stoff hätte meiner Ansicht nach mehr Potential gehabt.

Jean-Baptiste Andrea: Was ich von ihr weiß. Aus dem Französischen von Thomas Brovot. Luchterhand 2025
www.penguin.de

 

Weitere Rezensionen zu Siegertiteln des Prix Goncourt auf diesem Blog:

2016
2018
2019
2021

 

Tarjei Vesaas: Frühlingsnacht

  Zwischenzonen

 

Dem vierzehnjährigen Hallstein und seiner achtzehnjährigen Schwester Sissel winkt zu Beginn des Romans Frühlingsnacht von Tarjei Vesaas (1897 – 1979) für eine Nacht große Freiheit, denn die Eltern sind zu einer Beerdigung gefahren. Die Geschwister haben das alte gelbe Haus am Waldrand oberhalb der Straße etwas außerhalb des Dorfes für sich allein:

Sie waren früh heute weggefahren, und sie hatten ihr eigenes Gewicht mitgenommen. (S. 5)

Wie der heiße Spätfrühling an der Schwelle zum Sommer steht, befindet sich der sensible, naturverbundene und kindlich-verträumte Hallstein an der Schwelle zum Erwachsensein und erahnt dessen Vorboten, ohne sie bereits zu durchdringen. Seine geheimsten Gedanken teilt er mit einer Fantasiefreundin namens Gudrun. Gleich zu Beginn spürt er diese Kluft, als er Sissel mit dem gleichaltrigen Tore beobachtet, ihr Verhalten ihm jedoch rätselhaft bleibt. Tore wird im Geschehen dieser Nacht dreimal auftauchen als Maßstab für Hallsteins Entwicklung: Je erwachsener er wird, desto vertrauter wird ihm der Ältere und schwindet sein Widerwille gegen ihn.

Überraschungsbesuch
Nur kurz genießen die Geschwister ihre Freude über das elternfreie Haus, als es hart an die Haustür klopft. Draußen steht eine Familie, die nach einer Autopanne Hilfe einfordert: die von heftigen Wehen geplagte Grete, ihr kriegstraumatisierter Mann Karl, dessen dreizehnjährige Schwester Gudrun und ihr hyperaktiver, nervöser Vater Hjalmar. Im Auto zurückgelassen haben sie nach einer heftigen Auseinandersetzung Hjalmars zweite Frau Kristine, die als Folge ehelicher Dissonanzen vermeintlich lahm und stumm geworden ist.

Binnen kurzem tragen die exzentrischen Besucher ihre Konflikte ins Haus und legen nun ihrerseits ihr Gewicht auf die Geschwister. Besonders Hallstein wird von allen vereinnahmt, was ihn mit Staunen und Stolz, aber auch mit Hilflosigkeit erfüllt:

Was war das für eine unglaubliche Nacht? Aus allen Zimmern rief es nach ihm, und er musste hinein. (S. 138)

Tarjei Vesaas: Frühlingsnacht. Foto & Collage: © B. Busch. Cover: © Guggolz.

Großer Sprung
Hallstein begegnet in dieser eigentümlichen Spätfrühlingsnacht zwischen Realität und Traumwelt, in der die Dunkelheit „nicht mehr gewesen als eine etwas grauere Haut über der Landschaft“ (S. 127), Geburt, Tod, Schuld, Reue, Vergebung, Freude, Schmerz, Einsamkeit, Demütigung, Angst und zarten Gefühlen für die fleischgewordene Gudrun. Niemand geht unverändert aus dieser „zauberischen Nacht“ (S. 107) hervor, Hallstein springt gar „über den Abstand von Jahren“ (S. 131). Die imaginierte Gudrun ist Vergangenheit.

Hinrich Schmidt-Henkel auf der Leipziger Buchmesse 2025. © B. Busch

Zeitlos und großartig erzählt
F
rühlingsnacht aus dem Jahr 1954 war nach Das Eis-Schloss (1963), Die Vögel (1957) und der Der Keim (1940) mein vierter Roman des Norwegers Tarjei Vesaas aus dem Guggolz Verlag in der herausragenden Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel und zugleich der am meisten fordernde. Im Fokus stehen nicht die Geheimnisse der eigentümlichen Gäste, sondern ausschließlich Hallstein. Die Familie ist Katalysator für seine Veränderung, nicht Gegenstand von Untersuchung und Enthüllung.

Tarjei Vesaas‘ Werke gehören für mich zu den bedeutendsten modernen Klassikern, und vor allem Das Eis-Schloss und Die Vögel zu meinen liebsten Entdeckungen der letzten Jahre, denen Frühlingsnacht kaum nachsteht. Für seine überragende Fähigkeit, jugendliche Perspektiven einzunehmen, die Natur, Licht und Dunkelheit als Handlungsträger einzusetzen und große Gefühle eindringlich-leise mit schwebenden Andeutungen heraufzubeschwören hätte ihm der Literaturpreis, für den er mehrfach vorgeschlagen wurde, unbedingt gebührt.

Hanne Ørstavik auf der Leipziger Buchmesse 2025. © B. Busch

Der Beitrag der norwegischen Schriftstellerin Hanne Ørstavik in einer Festschrift zum 125. Geburtstag Tarjei Vesaas‘ 2022 ist dem Buch als ungewöhnliches, da weit vom Text ins Private abweichendes Nachwort angefügt und macht neugierig auf ihre Romane.

Tarjei Vesaas: Frühlingsnacht. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Mit einem Nachwort von Hanne Ørstavik. Guggolz 2025
www.guggolz-verlag.de

 

 

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Tarjei Vesaas auf diesem Blog:
   

Elin Anna Labba: Das Echo der Sommer

  Ertrunkenes Sommerland

Durch die Romane Das Leuchten der Rentiere und Die Zeit im Sommerlicht der schwedisch-samischen Autorin Ann-Helén Laestadius wurde mein Interesse an der Geschichte und Kultur der Sámi, dem indigenen Volk im Norden Europas, geweckt. Bei einer unvergesslichen Reise durch den finnischen Teil Lapplands und die norwegische Finnmark im Sommer 2024 gehörte der Besuch des großartigen samischen Museums und Naturzentrums Siida in Inari zu den vielen Höhepunkten.

Deshalb habe ich mich sehr gefreut, dass der Verlag S. Fischer nun den Debütroman der schwedisch-samischen Autorin Elin Anna Labba mit einem so wunderschönen Cover veröffentlicht hat. Die Journalistin erhielt 2020 unter anderem den renommierten Augustpreis für ihr bisher nicht ins Deutsche übersetzte Sachbuch Herrerna satte oss hit (deutsch: Die Herren brachten uns hierher) über die Zwangsumsiedlung der Sámi bei der Aufteilung ihres angestammten Siedlungsgebietes zwischen den nordischen Ländern und Russland. Auf Interviews, die sie für ihr Sachbuch führte, sowie auf realen Ereignissen basiert nun ihr Debütroman.

Sámi-Museum Siida in Inari. © M. Busch und Sámi-Flagge (mit Schweden, Norwegen, Russland und Finnland). © B. Busch

In Das Echo der Sommer geht es nicht um den Verlust samischer Heimat durch neu gezogene Landesgrenzen, sondern durch die Nutzung von Wasserkraft zur Stromgewinnung für die Industrialisierung Schwedens im 20. Jahrhundert. Insgesamt viermal wird die samische Nomadin Rávdná Opfer der Überflutung ihres Dorfes.

Der Preis des billigen Stroms
Als der Roman 1942 einsetzt, ist ihre Torfkote im „Sommerland“ am Fuße des Hochfjälls, in der sie nach dem Tod ihres Mannes mit ihrer 13-jährigen Tochter Iŋgá und ihrer Schwester Ánne die Sommer verbringt, bereits zum dritten Mal ohne Vorwarnung, Entschädigung oder Entschuldigung des schwedischen Staates überflutet:

Der See stand in ihrem Zuhause. (1. Satz, S. 15)

Ihr Besitz ist genau wie der Wald „ertrunken“, der lebensnotwendige Fischfang kaum noch möglich. Wieder werden provisorische Zeltkoten errichtet, wird das Dorf am Hang weiter auseinandergezogen und geht Gemeinschaft verloren. Wütend steigt Rávdná noch höher ins Fjäll und baut, obwohl es für die unter behördlicher Vormundschaft stehenden Sámi gesetzlich verboten ist und Sámi keine Hauskredite bekommen, ein eckiges Haus mit Fenstern.

Elin Anna Labba: Das Echo der Sommer. Fotos & Collage: © B. Busch. Cover: © S. Fischer.

Rávdná, die das „Sommerland“ und die Freiheit dort liebt und die Wanderung mit den Rentieren nach Westen im Frühling kaum erwarten kann, fühlt sich zunehmend fremd.

Im zweiten Teil springt der Roman zunächst ins Jahr 1968. Wieder soll der Staudamm ohne Rücksicht auf die Nomaden erhöht werden. Aus dem See wird ein Ozean.

Unbedingt lesenswert
Elin Anna Labba erzählt in ihrem erschütternden Roman von Rassismus, kulturellem Unverständnis, diskriminierender Gesetzgebung und Missachtung der Rechte der Ureinwohner durch den schwedischen Staat und die Mehrheitsbevölkerung. Gleichzeitig ist Das Echo der Sommer ein Roman über drei Frauen, die grundverschiedene Strategien angesichts von schmerzlichem Heimatverlust, Trauer, Ausgeliefertsein, Diskriminierung und Naturzerstörung entwickeln und zeigt den Preis des Widerstands (Rávdná) genauso wie den von Schweigen (Ánne) und Anpassung (Iŋgá).

Durch die Verwendung nordsamischen Vokabulars erhält der Roman eine besondere Authenzität, überraschenderweise ohne das Textverständnis zu schmälern, wenn man sich darauf einlässt. Wunderschöne Sprachbilder stechen poetisch hervor, wie das über die tief verwurzelte nomadische Unrast bis ins hohe Alter:

Jeder wusste, dass im Frühling das Altersheim zu einer Rentierglocke wurde, die läutete und läutete. (S. 437)

Sprachliche Höhepunkte sind auch die kleinen Einschübe mit der ebenso melancholischen wie melodischen Stimme des Sees, wie der ganze Romane äußerst einfühlsam übersetzt von Hanna Granz:

Ich wachse, denn die mich groß wollen,
kennen kein Ende.
Nie haben sie eines gekannt. (Schlusssätz S. 461)

Elin Anna Labba lebt auch in Norwegen, wo die klimatischen Bedingungen für die Rentierhaltung besser und das Verständnis für die Sámi größer sind als in Schweden. Ich freue mich sehr auf weitere Romane von ihr.

Elin Anna Labba: Das Echo der Sommer. Aus dem Schwedischen von Hanna Granz.  S. Fischer 2025
www.fischerverlage.de

 

Weitere Romane über die Volksgruppe der Sámi auf diesem Blog:

 

Thomas Hardy: Die Liebe seines Lebens

  Porträt eines Getriebenen

Kaum zu glauben, dass der zuletzt erschienene Roman des großen britischen Romanciers und Lyrikers Thomas Hardy (1840 – 1928) erst jetzt unter dem Titel Die Liebe seines Lebens erstmals ins Deutsche übertragen wurde. In einer schmucken Ausgabe mit hilfreichen Anmerkungen, einer Landkarte und einem informativen Nachwort des vorzüglichen Übersetzers Lutz-W. Wolff macht der Reclam Verlag den Roman, der ursprünglich 1892 als Fortsetzungsgeschichte im Wochenmagazin The Illustrated London News erschien, dann 1897 in stark überarbeiteter Fassung als Buch, dem deutschsprachigen Publikum zugänglich.

Im Mittelpunkt aller drei Romanteile steht der Bildhauer Jocelyn Pierston, der zunächst 20, dann 40 und 60 Jahre alt, jedoch in eigener Wahrnehmung stets ein „junger Mann“ ist.

Avice die Erste
Im ersten Teil kehrt Jocelyn Pierston nach längerer Abwesenheit auf die kleine Isle of Slingers, eigentlich Isle of Portland, einer Kalksteinhalbinsel im Ärmelkanal, zurück. Hier haben seine Vorfahren als Bergwerksbesitzer Kalkstein abgebaut, mit dessen künstlerischer Bearbeitung er sich nun als aufstrebender Bildhauer in London einen Namen macht.

Kaum angekommen, begrüßt ihn seine ehemalige Kinderfreundin Avice Caro stürmisch und unbefangen, was Jocelyn spontan zu einem Heiratsantrag veranlasst. Wieder einmal glaubt er sich am Ziel, getrieben von einer ihm selbst rätselhaften, unerfüllten Sehnsucht nach dem weiblichen Ideal, um nur Tage später die Verkörperung desselben Ideals bereits wieder in einer anderen Frau zu erkennen:

Seinem Ideal war er immer treu gewesen, aber es hatte viele Verkörperungen gehabt. Die Individuen namens Lucy, Jane, Flora, Evangeline oder was auch immer waren stets nur aufeinanderfolgende Übergangsstadien seines Idols gewesen. […] Seinem Wesen nach hatte sein Idol gar keine greifbare Substanz, es war nur eine Stimmung, ein Traum, ein Rausch, ein Begriff, ein Duft, die Essenz des Geschlechts in einem Leuchten der Augen oder sich öffnenden Lippen. (S. 22)

Thomas Hardy: Die Liebe seines Lebens. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Reclam.

Avice die Zweite
Während jedoch die Lucys, Janes oder Floras kommen und gehen, kehrt Jocelyn immer wieder zur Inselfamilie Caro zurück. Im Mittelteil des Romans ist es Avices Tochter Ann Avice, die dem inzwischen 40-Jährigen mit der – wenn auch nur äußerlichen – Ähnlichkeit zu ihrer verstorbenen Mutter als deren Wiederauferstehung erscheint. Die Heiratsabsichten des mittlerweile wohlhabenden und angesehenen Künstlers scheitern erneut, wenn auch aus anderen Gründen.

Avice die Dritte
Noch einen dritten Anlauf unternimmt der nun 60-jährige Jocelyn, nachdem er den Höhepunkt seiner Künstlerkarriere hinter sich hat. Mit der Enkelin, ebenfalls Avice, sind „Fluch und Verhängnis zurückgekehrt“ (S. 160) und er will endlich in Ordnung bringen, „was ich in meinem Kopf seit 40 Jahren als falsch empfinde“ (S. 167), auch wenn er ihr zunächst nur im Dunkeln gegenüberzutreten wagt.

Ein Buch, das mir zunehmend besser gefiel
Die Liebe seines Lebens
hat mich im ersten Teil wegen Jocelyns zunächst neutral erzählter rücksichtsloser Ich-Bezogenheit abgestoßen und empört, im zweiten mit Schadenfreude und schließlich im dritten mit Mitleid für diesen obsessiv suchenden, gequälten Künstler erfüllt. Der zunehmend humorvolle Unterton war maßgeblich dafür verantwortlich, dass ich die nicht ganz ernst zu nehmende, teils melancholisch anmutende Geschichte mehr und mehr genoss. Virtuos bezieht Thomas Hardy üppige Beschreibungen einer malerischen Insel voller landschaftlicher Schönheit und traditioneller Bräuche in die Handlung ein. Erfrischender als der über lange Zeit charakterlich eher starre Protagonist waren für mich die Frauen der Familie Caro, die von Generation zu Generation selbstbestimmter agieren.

Eine unterhaltsame Lektüre und höchste Zeit, die „großen“ Romane von Thomas Hardy kennenzulernen!

Thomas Hardy: Die Liebe seines Lebens. Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff. Reclam 2025
www.reclam.de

Katharina Köller: Wild wuchern

  Von wegen Bergidyll

Die Einstiegsszene im Roman Wild wuchern würde jedem Thriller zur Ehre gereichen. Marie, die Ich-Erzählerin, flieht panisch und blutbefleckt in stürmischer, stockdunkler Nacht einen Berg in den Tiroler Alpen hinauf zu einer abgelegenen Hütte. Alles erschreckt die schicke Wienerin mit ihrem eilig gepackten Rucksack voller unnützer Dinge, die die Bergwelt schon immer verabscheute. Damit ist sie das krasse Gegenteil ihrer fast gleichaltrigen, menschenscheuen Cousine Johanna, dem Naturkind, der Eremitin, die sich nach der Matura vor einigen Jahren hierher zurückgezogen hat.

Marie ist zum wiederholten Mal auf der Flucht vor körperlicher und seelischer häuslicher Gewalt. Ihr „Après-Ski-Hüttengaudi-Typ“-Ehemann Peter hat aus der aufstrebenden, weltgewandten Schuhdesignerin ein depressiv-verzagtes Nervenbündel gemacht. Mit letzter Kraft erreicht Marie Johannas Rückzugsort, wo die Cousine stumm, emotionslos und abweisend reagiert:

[…] deswegen lässt sie mich im Dunkeln stehen, bietet mir keinen Tee an, tut nicht so, als würd sie sich freuen, und fragt mich nicht mal, was ich will, mitten in der Nacht da auf dem Berg. (S. 23)

Goldmarie und Pechmarie
Schon einmal wurde eine der Cousinen der anderen aufgenötigt, damals die 14-jährige traumatisierte Johanna, um die Marie sich ohne Erklärung kümmern sollte:

Und als sie zu mir in die Klasse gekommen ist und mir wie ein Mühlstein um den Hals gehängt wurde, hat sie nur noch manchmal und nur wenig geredet. (S. 29)

In den Ferien schickten ihre Eltern die beiden mit dem Großvater auf den Berg. Hier war Marie, Liebling von Mutter und Tante und deren engelsgleicher Klon, plötzlich nicht mehr die niedliche Goldmarie, weil der Großvater mit der „Almöhi-Aura“ die robuste Johanna vorzog. Irgendwann schleppte er Marie eigenhändig ins Tal und verbannte sie endgültig.

Ungebetener Eindringling
Da Johanna offensichtlich lieber allein wäre, tut Marie, was sie am besten kann: sich ducken, nicht auffallen, schweigend anpassen, mitanpacken bei der Almarbeit und den Ziegen. Zurück kann sie nicht, auch nicht, als Johanna sie nach ein paar Wochen hinauswirft. Doch Marie hat ihre Opferrolle satt:

Ich hab mich vom Großvater ins Tal schleppen lassen und vom Peter nach Wien. Ich war dort, wo man mich hingepflanzt hat, wie ein Ziergewächs in einem Topf.
Jetzt bin ich hier und wuchere. (S. 110)

Katharina Köller: Wild wuchern. Fotos: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Penguin.

Eine Lektüre mit Wums
Schon lange hat mich keine Autorin mehr so spontan mitgerissen und 205 Seiten gefesselt wie die 1984 geborene Österreicherin Katharina Köller mit ihrem zweiten Roman Wild wuchern. Was ist in Maries und Johannas dysfunktionalen Familien vorgefallen? Warum kann Marie auf keinen Fall zurück? Wer ist Goldmarie, wer Pechmarie? Finden die beiden Cousinen einen Weg zur Aussprache?

Man merkt diesem ohne Kapitelunterteilung durchrauschenden Kammerspiel mit den drei Protagonistinnen – den beiden grundverschiedenen Frauen und der rauen Natur – an, dass die Autorin auch Schauspielerin und Theatermacherin ist, denn der (selbst-)ironische, wütende Monolog Maries lief wie ein Film vor mir ab. Besonders der raffinierte, nur auf den ersten Blick einfache Erzählstil in österreichischer Klangfärbung mit viel Sprachwitz, starken Bildern und messerscharfen Sätzen hat mich förmlich umgehauen, weil ich vergleichbar Originelles noch nie gelesen habe.

Wild wuchern war für mich ein überraschendes, spektakuläres, explosives Leseerlebnis über weibliche Rollenbilder, Befreiung aus Opferrolle und Abhängigkeiten, unterschiedliche Formen von Einsamkeit, Fokussierung auf Grundbedürfnisse und Aussicht auf Heilung:

Das hab ich auch nicht gewusst, dass es einfacher ist, sich jemandem in den Weg zu stellen, als selbst abzuhauen. (S. 169)

Katharina Köller (links) im Interview mit Gesa Ufer (rechts) auf der Leipziger Buchmesse 2025. © M. Busch

Katharina Köller: Wild wuchern. Penguin 2025
www.penguin.de

Uwe Timm: Der Mann auf dem Hochrad

  Familienlegenden

In vielen Familien gibt es originelle Mitglieder, an die man sich bei Treffen gerne erinnert. Beim Autor Uwe Timm hat sein kauziger Großonkel Franz Schröter diese Rolle inne, ein Vorreiter als Tierpräparator und Hochradpionier von Coburg. Um ihn und seine tatkräftige Frau Anna ranken sich viele Legenden, diese den Märchen und Sagen verwandte literarische Gattung mit einem fantastisch ausgeschmückten wahren Kern. Uwe Timm hat den beiden 1984 in seinem Roman Der Mann auf dem Hochrad ein liebevolles Denkmal gesetzt, das der Verlag Kiepenheuer & Witsch 2025 zum 85. Geburtstag seines renommierten Autors in hübscher Ausstattung neu aufgelegt hat.

Als die Schröters 1943 den aus Hamburg evakuierten dreijährigen Uwe Timm und dessen Mutter bei sich aufnahmen, lag die große Zeit Franz Schröters, der etwa zwischen 1865 und 1955 gelebt haben muss, bereits weit zurück. Er war als junger Tierpräparator nach zweijähriger Gesellenzeit in London im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in das Residenzstädtchen Coburg gezogen und hatte dort ein Geschäft eröffnet. Zunächst stand die konservative Kundschaft seinen ungewohnt lebensechten Arbeiten ablehnend gegenüber. Erst, als er den Lieblingsmops der Herzogin auf diese Weise ausstopfte, konnte er sich seinen Traum vom ersten englischen Hochrad in Coburg erfüllen.

Stabilität durch Bewegung
Herrlich beschreibt Uwe Timm die Reaktion auf den Anblick des Autodidakten:

Es muss eine Stimmung wie siebzig Jahre später in einem Catcherzelt gewesen sein, als er sich wieder aufrappelte […] (S. 18)

Das Auf- und vor allem das verletzungsfreie Absteigen war äußerst kompliziert, und das Fahren, besonders wegen der gefürchteten Kopfstürze, hochriskant:

Es waren weder Mut noch Selbstvertrauen, die Onkel Franz einen neuen, stark vereinfachten Absprung finden ließen, es war die Angst vor der Uferböschung. (S. 21)

Als das anfängliche Gelächter einem respektvollen Schweigen wich, löste Anna in „syrischen Unterkleidern“, einer Art Hosenrock, auf dem Hochrad neue Empörung aus. Es dämmerte nicht nur Franz, dass die technische Revolution auch beim weiblichen Geschlecht neue Wünsche weckte und das Fahren durchaus eine erotische Komponente besaß.

Innovativ und doch tragisch
Schröters Tragik war, dass bald nach seiner Einführung des Hochrads in Coburg und einiger erfolgreicher Verkäufe und Lehrstunden dank der Erfindung des Kettenantriebs die Niederräder aufkamen. Wohl wurden auch sie bekämpft, weil sie angeblich Schuhmacher, Droschkenkutscher, Pianofabrikanten und Juweliere arbeitslos machten, letztere, weil als Konfirmationsgeschenke mutmaßlich nun eher zu Fahrrädern als zu Taschenuhren gegriffen wurde. Bequemlichkeit, Sicherheit, Schnelligkeit und Preis sprachen jedoch eindeutig für Niederräder. Schröter hielt trotzdem kompromisslos am eleganteren Hochrad fest und meldete sogar ein Patent einer sich lösenden Lenkstange zur Eindämmung der gefürchteten Kopfstürze an. Allerdings lösten sie sich bisweilen zum Entsetzen ihrer Nutzer anlasslos, was zu umso schlimmeren Unfällen führte. Schröter hatte sich „auf eine so unbegreifliche und nicht umkehrbare Weise verrannt“ (S. 226).

Vom Umgang mit dem Fortschritt
Was blieb von diesem unpolitischen Pionier mit dem unspektakulären Lebensabend, außer dem sehr unterhaltsamen, bisweilen mit politischen Einschüben von Sozialistengesetzen bis Nationalsozialismus angereicherten Roman, der detailverliebt und augenzwinkernd Kleinstadtbewohnerinnen und -bewohner kurz vor der Jahrhundertwende porträtiert? Franz Schröters Meisterstück steht bis heute im Londoner Victoria and Albert Museum: ein lebensecht präparierter, riesengroßer Kongo-Gorilla, für den er sogar das Dach seiner Werkstatt anheben musste.

Uwe Timm: Der Mann auf dem Hochrad. Fotos des Coburger Marktplatzes und von Schloss Ehrenburg: © M. Busch. Foto mit Gorilla & Collage: © B. Busch. Cover: © Kiepenheuer & Witsch.


Der Mann auf dem Hochrad
ist nicht nur für Fahrradbegeisterte eine empfehlenswerte Lektüre, sondern auch ein mit amüsanter, eleganter Leichtigkeit erzähltes Lehrstück über Fortschritt und Stillstand.

Uwe Timm: Der Mann auf dem Hochrad. Mit einem Nachwort von Kerstin Gleba. Kiepenheuer & Witsch 2025
www.kiwi-verlag.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen und einem Kinderbuch von Uwe Timm auf diesem Blog:

          

Kristin Valla: Ein Raum zum Schreiben

  Weibliche Schreibstuben

 

Mit ihrem Debütroman Muskat landete die 1975 geborene Norwegerin Kristin Valla 2000 einen Überraschungserfolg nicht nur in ihrem Heimatland. Nach einem weiteren Roman galt sie als vielversprechende junge Autorin, doch kam ihre Schriftstellerinnenkarriere mit ihrer Heirat, den beiden Söhnen und Jobs als Kulturjournalistin und Moderedakteurin zum Erliegen:

Eigentlich fehlte mir das Schreiben nicht. Ich war nicht unzufrieden, nicht frustriert. Im Gegenteil, oft empfand ich eine tiefe Dankbarkeit für meine Familie, für unser Zuhause und unser Leben. (S. 10)

Selbst als sie ihre Tätigkeit bei Aftenposten aufgab, um als Freiberuflerin mehr Zeit für literarisches Schreiben zu haben, gelang ihr kein weiteres Buch. Einerseits hielt sich die Inspiration nicht an Arbeitszeiten, andererseits gab es in der Osloer Familienwohnung zwar Kinderzimmer, aber keine Schreibstube. Inspiriert vom bahnbrechenden feministischen Essay A Room of One’s Own von Virginia Woolf aus dem Jahr 1929, der Geld und ein eigenes Zimmer als Grundvoraussetzungen für weibliches Schreiben fordert, verwandelte Kristin Valla ihre Trauer über die Schreibblockade in einen Befreiungsschlag:

In dem Jahr, in dem ich einundvierzig wurde, kaufte ich ein Haus im Dorf Roquebrun im Südwesten Frankreichs, vierzig Kilometer vom Mittelmeer entfernt. […] Das Haus gehörte nur mir. (S. 7/8)

Mit der über 2000 Kilometer entfernten Immobilie wäre Virginia Woolfs zweite Forderung erfüllt gewesen, hätte sich ihr Zustand als weniger desolat erwiesen. Doch anstatt mit marodem Charme zu bezaubern, führte jeder erneute Besuch zu Tränenausbrüchen bei der zunehmend verzweifelten Besitzerin.

Katalysator statt Schreibstube
Fast acht Jahre mit vielen Tiefpunkten und neuen Krediten brauchte es, bis Schimmelbefall, wiederkehrende Wassereinbrüche, Termitenschäden, instabile Decken und aufgequollene Türen behoben waren. Die Kämpfe mit Handwerkern lesen sich längst nicht so amüsant wie beim englischen Kollegen Peter Mayle in Mein Jahr in der Provence, der ebenfalls ein südfranzösisches Haus renovierte. An Schreiben war in Roquebrun kaum zu denken, und doch entstand, 16 Jahre nach dem letzten, der neue Roman Das Haus über dem Fjord, der 2019 in Norwegen, 2022 in Deutschland zu Kristin Vallas literarischem Comeback führte. Dabei erwies sich das französische Steinhaus als Katalysator für das Schreiben in Oslo:

Bei jeder Entscheidung, vor die ich gestellt wurde, wuchsen Ambitionen und Arbeitslust und damit auch der Umfang des Romans, den ich schrieb. (S. 164)

Der Blick in andere Schreibstuben
Hätte sich Kristin Valla auf ihre eigenen Erfahrungen beschränkt, es wäre mir zu wenig gewesen. Ihre Unentschlossenheit, die verkrampfte Unzufriedenheit und die kaum vorhandenen Auseinandersetzungen mit ihrer Vielfliegerei und den Auswirkungen ihrer Abwesenheiten auf ihre tolerante Familie strapazierten meine Geduld. Wirklich interessant und lesenswert wird diese Buch jedoch durch Beiträge über eine erstaunliche Vielzahl erfolgreicher Autorinnen und ihre Schreiborte: Sigrid Undset, Amalie Skram, Leïla Slimani, Marguerite Duras, Chimamanda Adichie, Agatha Christie, Tania Blixen, Daphne du Maurier, Selma Lagerlöf, Vita Sackwell-West, Tania Blixen, Annette von Droste-Hülshoff, Toni Morrisen und natürlich Virginia Woolf, um nur einige zu nennen. Diese gekonnt integrierten, mal kurzen, mal längeren Einschübe stellen Kristin Vallas Projekt in einen größeren Zusammenhang. Besonders anrührend fand ich drei der Schreibbiografien: Halldis Moren Vesaas blieb, anders als ihr erfolgreicher Mann Tarjei Vesaas, auf dem Familienhof Midtbø in Telemark 20 Jahre ohne eigenes Schreibzimmer. Serine Regine Normann war die erste erfolgreiche nordnorwegische Schriftstellerin und schrieb zeitweise versteckt in einer Höhle. Die fünffache alleinerziehende Mutter und Sozialhilfeempfängerin Buchi Emecheta aus Nigeria erfüllte sich schreibend den Traum vom eigenen Haus in London.

Kristin Valla: Ein Raum zum Schreiben. Fotos: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © mare.

Ein Raum zum Schreiben ist eine überwiegend unterhaltsame und sehr informative Mischung aus Autobiografie und Sachbuch in der gewohnt souveränen Übersetzung von Gabriele Haefs.

Kristin Valla: Ein Raum zum Schreiben. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. mare 2025
www.mare.de