Iris Wolff: Lichtungen

  Gehen oder bleiben?

Lichtungen der 1977 in Siebenbürgen geborenen, im Banat aufgewachsenen und 1985 nach Süddeutschland übersiedelten Autorin Iris Wolff beginnt mit einer Überraschung: Nicht das erste Kapitel eröffnet das Buch, sondern das letzte, neunte. Ausgangspunkt ist das Jahr 1994, als der Protagonist Leonhard, genannt Lev, seine Freundin Kato nach fünf Jahren der Trennung in Zürich wiedertrifft. Beide sind Ende 30, befreundet seit Kindertagen und haben, wie die meisten Landsleute, die Öffnung der Grenze und das Ende der Ceaușescu-Diktatur in ihrer Heimat Rumänien herbeigesehnt. Während der bodenständige, zögerliche Lev jedoch nach der Revolution von 1989 in der Maramuresch, der waldreichen Region im Norden Rumäniens an der Grenze zur Ukraine geblieben ist, hat die mutige, freiheitsliebende Kato die erste Gelegenheit ergriffen und ist mit dem deutschen Fahrradtouristen Tom Richtung Westen geradelt. Als Straßenkünstlerin und mit Gelegenheitsjobs hat sie Europa bereist, Lev regelmäßig Postkarten geschickt, zuletzt mit nur einem Satz:

Wann kommst du? (S. 19)

Noch einmal möchte Lev Kato keinesfalls verlieren.

Von neun nach eins
Im Rückwärtsgang und somit in umgekehrter Reihenfolge der Kapitel, die wie Lichtungen den Blick auf Stationen im Leben von Kato und vor allem Lev freigeben, erzählt Iris Wolff von den prägenden Erfahrungen ihrer Figuren. Oftmals wird nur angedeutet oder bleiben Leerstellen, denn Iris Wolff traut ihren Leserinnen und Lesern erfreulich viel zu. Je mehr die Vergangenheit Schicht um Schicht freigelegt wird, umso mehr versteht man, was Lev und Kato zu dem hat werden lassen, was sie sind:

Jeder Augenblick enthält alles Gewesene, und war doch immer wieder ein Neubeginn. (S. 34)

Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Klett-Cotta

Beide haben schwerwiegende Verluste erlitten, die erst allmählich sichtbar werden. Lev wurde durch ein traumatisches Ereignis im Alter von 11 Jahren ans Bett gefesselt, Fluch und Segen gleichermaßen, da die Zeit der Krankheit zum Ausgangspunkt der Freundschaft mit der Außenseiterin Kato wurde. Anders als seine Freundin, die den Blick in die Welt richtet, sucht er, der eine siebenbürgisch-sächsische Mutter, einen früh verstorbenen rumänischen Vater und einen als Österreicher geborenen Großvater hat, nach seiner Identität, verweigert jedoch eine eindeutige Zuordnung.

Ein erstes Highlight 2024
Völlig zurecht hat Iris Wolffs fünftes Buch Lichtungen nur kurz nach seinem Erscheinen Platz eins der SWR-Bestenliste Februar 2024 erklommen. Mit seinen Themen und Charakteren hat mich der Roman begeistert: Die spürbare Zuneigung der Autorin zu ihren zahlreichen, durchweg interessanten Figuren überträgt sich fließend, die Ortsbeschreibungen sind detailliert und ebenso atmosphärisch wie das Spiel mit Licht, Geräuschen und Gerüchen, die rumänische Zeitgeschichte prägt das Leben aller spürbar und der bunte Themenstrauß wie Heimat und Zugehörigkeit, Umgang mit Verlust und Trauer, Sehnsucht nach Freiheit und der Wunsch zu bleiben, Freundschaft und Liebe hat mich durchgehend gefesselt. Herausragend ist wie immer Iris Wolffs Sprache, jedes Wort mit Bedacht gesetzt, einerseits messerscharf und klar, andererseits poetisch, bildreich, melodisch und nie kitschig. Absolut genial aber ist die Form des Rückwärtserzählens, weil sie kein aufgesetztes Stilmittel ist, sondern organisch die Aussage des Textes unterstreicht. Sie funktioniert durchgängig perfekt und macht Lust darauf, den Roman ein zweites Mal zu lesen, vielleicht sogar rückwärts.

Lichtungen wäre zweifellos ein würdiger Kandidat für den Deutschen Buchpreises 2024. Ich jedenfalls drücke die Daumen!

Lesung und Interview am 30.01.2024 im Literaturhaus Stuttgart mit Iris Wolff und SWR-Redakteurin Katharina Borchardt. Fotos: © B. Busch & U. Gmähle. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Klett-Cotta

Iris Wolff: Lichtungen. Klett-Cotta 2024
www.klett-cotta.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Iris Wolff auf diesem Blog:

Per Petterson: Im Kielwasser

  Am Boden

Am 7. April 1990 geriet die Fähre Scandinavian Star zwischen Oslo und dem dänischen Fredrikshavn in Brand. 159 Menschen, ausschließlich Passagiere, verloren ihr Leben, darunter die Eltern und der jüngere Bruder des 1952 geborenen norwegischen Schriftstellers Per Petterson. Sein 2000 auf Norwegisch, 2007 in der hervorragenden Übersetzung von Ina Kronenberger auf Deutsch erschienener Roman, in dem eingefleischte Petterson-Fans den Helden Arvid Jansen wiedertreffen, spielt Im Kielwasser dieser Tragödie: Auch der Protagonist Arvid verlor bei dem Unglück seine Eltern, dazu gleich zwei jüngere Brüder.

Sechs Jahre später, im März 1996, ist Arvid ganz unten angekommen:

Seit langem schon befinde ich mich auf dem Weg dahin, doch jetzt bin ich angekommen. Am Boden. (S. 19)

Geschieden, nahezu ohne Kontakt zu seinen Töchtern, randaliert Arvid betrunken, schmutzig und mit gebrochenen Rippen vor der Buchhandlung im Zentrum von Oslo, in der er seit drei Jahren nicht mehr arbeitet. Das Manuskript, an dem der Schriftsteller arbeitet, liegt unter einer Staubschicht begraben, die kurz vor dem Unglück begonnene Karriere ist zum Erliegen gekommen. Die frühere Nähe zu seinem drei Jahre älteren Bruder ging verloren. Jetzt liegt der Bruder nach einem Suizidversuch im Krankenhaus, auch er kurz vor der Scheidung:

»Du hattest dir wohl vorgenommen, mich allein zurückzulassen?«
[…]
»Du bist nicht genug«, sagt er. (S. 135 u. 136)

Unerträgliche Trauer
Im Kielwasser
spielt während weniger Wochen im Frühjahr 1996 und zeigt einen trauernden, desillusionierten, mutlosen Menschen, der ähnlich dem Helden in Hunger von Knut Hamsun ziellos durch Oslo und die Umgebung irrt, genauso allein, jedoch mit einer Bleibe. Durchzogen ist der Roman von Erinnerungen an den Vater, zu dem Arvid nie Zugang fand und den er, wie er nun erkennt, vielleicht falsch beurteilte. So treibt er nicht nur Im Kielwasser des Unglücks, sondern auch des verstorbenen Vaters:

»Mein Vater ist tot.« […] Aber das Merkwürdige ist, daß ich sechs Jahre gebraucht habe, um zu begreifen, daß es unerträglich ist. (S. 173)

Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Fischer

Zwei skandinavische Autoren, ein ähnliches Thema
Für den mit autobiografischen Anklängen erzählten Roman Im Kielwasser erhielt der vielfach ausgezeichnete Per Petterson 2000 den renommiertesten norwegischen Literaturpreis, den Brageprisen. Erinnert hat mich das Buch immer wieder an den noch nicht ins Deutsche übersetzten autobiografischen Roman Skynda att älska des Schweden Alex Schulman, der sich fünf Jahre nach dem – allerdings natürlichen – Tod seines Vater emotional in einer ähnlichen Lage befand. Auch bei ihm ging die enge Bindung an die Brüder verloren. Beide Bücher lassen am Ende glücklicherweise Hoffnung auf Trost und Genesung.

Nicht leicht zugänglich
Im Gegensatz zu Per Pettersons für mich alles überragenden Roman Pferde stehlen habe ich bei Im Kielwasser einige Zeit gebraucht, um mich auf die ruhige Erzählweise, den rauen, bisweilen von schwarzem Humor durchzogenen Ton und den kaum vorhandenen Plot einzulassen. Einmal geschafft, entfalten die nur knapp 190 Seiten allerdings eine unerwartete Wucht und brennen sich als Zeugnis der Trauer, des Kontrollverlusts und der Erinnerung ins Gedächtnis ein.

Per Petterson: Im Kielwasser. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. Fischer 2010
www.fischerverlage.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Per Petterson auf diesem Blog:

Bernhard Schlink: Das späte Leben

  Gezählte Tage

Eilte es jetzt, oder kam es jetzt nicht mehr darauf an? (S. 9)

Was, wenn der Gedanke an den eigenen Tod plötzlich konkret wird und die Tage gezählt sind? Maximal sechs Monate gibt der Hausarzt dem 76-jährigen Martin Brehm mit der Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs. Was tun mit den verbleibenden „guten“ Wochen, die der emeritierte Juraprofessor nüchtern auf zwölf schätzt?

Seine über 30 Jahre jüngere Frau Ulla, eine bildende Künstlerin, nimmt die Nachricht erstaunlich nüchtern auf, für die Arztbesuche ihres Mannes scheint sie sich nie interessiert zu haben. Nach einem Augenblick der Empathie kehrt sie zu praktischen Überlegungen zurück:

Wenn du willst, gehe ich in den nächsten Wochen nicht mehr ins Atelier und in die Galerie. Ich kann mich auch um den Kindergarten kümmern, David hinbringen und abholen, und um alles andere. (S. 26)

Keine Krankengeschichte
Die Einschulung des sechsjährigen Sohns David wird Martin höchstwahrscheinlich nicht mehr erleben. Eine Chemo- oder gar experimentelle Therapie lehnt er ab, beschränkt sich auf Hausarztbesuche. Überhaupt wird der Krankheitsverlauf nahezu komplett ausgeblendet, was einerseits erfreulich, andererseits unrealistisch und bei der Tumorschmerztherapie mit Ibuprofen geradezu abenteuerlich ist.

Ein Brief als Vermächtnis
Auf Ullas Vorschlag beginnt Martin einen Brief als Vermächtnis an den Sohn, ähnlich wie in Das Orangenmädchen von Jostein Gaarder, einem meiner Lieblingsromane. Aber welch ein Unterschied! Während der leukämiekranke junge Vater dort seinem Sohn eine äußerst berührende Liebesgeschichte und einen bunten Strauß philosophischer Anregungen hinterlässt, die elf Jahre später den dann 15-Jährigen ins Herz treffen, schreibt Martin, wie er selbst erkennt, eher für sich. Seine Überlegungen zu Gerechtigkeit, Liebe, Religion, Arbeit und Tod sind oft Binsenweisheiten und sollen David auf die Linie des Vaters einschwören, anstatt ihn zu einem selbstständig denkenden Menschen zu machen. Gemeinsame Unternehmungen, als Erinnerungen für David gedacht, muten mit einer stundenlangen Wanderung des Todkranken, während der „Das Wandern ist des Müllers Lust“ gesungen wird, und dem Anlegen eines Komposthaufens seltsam altbacken und unrealistisch an. Ulla, die schwächste, für mich am wenigsten glaubhafte Figur, kritisiert denn auch Martins Einflussnahme auf die Zukunft des Sohnes, vergnügt sich jedoch mit ihrem Liebhaber, anstatt sich um ihre Familie zu kümmern. David ist deshalb für mich die wirklich tragische Figur: aufwachsend in einem Haushalt, in dem es nicht einmal einen Zeichenblock und Stifte gibt, alleingelassen mit Andeutungen von einem überforderten, viel zu alten und verkopften Vater und einer desinteressierten Mutter. Überhaupt ist in dieser Familie Kommunikation ein Fremdwort, nur der Sex klappt noch zu einer Zeit, als Martin längst starke Schmerzen hat.

Das Beste kommt zum Schluss
Teilweise versöhnt hat mich der berührendere dritte und letzte Teil dieses Romans über die letzten neun „guten“ Wochen, in dem die durchgängig kurzen Kapitel als Zeitraffer fungieren. Als Martin die Verantwortung für Ullas und Davids Zukunftsgestaltung loslassen kann, verbringt die Familie entspannte, fast glückliche Tage am Meer:

Nur die Welt kam ihm abhanden. […] Aber vielleicht kommt nicht die Welt mir abhanden, dachte er, sondern ich bin es, der sich von der Welt verabschiedet. (S. 198/199)

Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Diogenes

Insgesamt hat mich Das späte Leben, der elfte Roman des 1944 geborenen Bernhard Schlink, mit seiner einfachen Sprache, unzeitgemäßer Wortwahl – wie „Kindergärtnerin“ anstatt „Erzieherin“ –, sachlichen Ungereimtheiten, einer aufdringlichen Konstruktion und schematischer Figurenzeichnung leider nicht dem fesselnden Thema angemessen erreicht. Dabei ist die Problematik abwesender Väter in unterschiedlicher Spielart gut eingeflochten. Ins Grübeln über eigenes Verhalten im Falle einer todbringenden Diagnose hat er mich trotzdem gebracht.

Bernhard Schlink: Das späte Leben. Diogenes 2023
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Bernhard Schlink auf diesem Blog:

Germana Fabiano: Mattanza

  Inselleben im Zeitenwandel

Unter dem Motto „Verwurzelt in der Zukunft“ präsentiert sich Italien im Oktober 2024 als Gastland der Frankfurter Buchmesse. Meine erste Lektüre in diesem Jahr habe ich passend dazu ausgewählt: Mattanza von Germana Fabiano, einer 1971 in Palermo geborenen, heute teils in Tübingen lebenden und lehrenden Autorin. Der Roman handelt vom Untergang des traditionellen Thunfischfangs auf der kleinen Insel Katria vor Sizilien und den Folgen der Globalisierung, eine melancholische Hommage an ihre Landsleute und deren verschwundene Welt.

Ein Fehler Gottes
1960 entgeht die Insel nur knapp einer Katastrophe. In der zweiten Generation hintereinander wird dem amtierenden Raìs und damit Anführer der Tonnata von Katria, dem traditionellen Thunfischfang, kein männlicher Nachkommen geboren. Die Geburt der Enkelin Eleonora Greco, genannt Nora, ist für die Thunfischfänger ein Schock:

In jener Februarnacht, in der sie geboren wurde, hatten die Tonnaroti erkannt, dass selbst Gott nicht unfehlbar war, an Eleonora klebte der Fluch der Insel, und niemand konnte etwas dagegen tun. (S. 10)

Der Raìs sieht nur einen Ausweg:

Es steht fest, dass der Raìs von unserem Blut sein muss, aber dass es keine Frau sein darf, hat niemand gesagt. (S. 12)

Der letzte Raìs: eine Frau
Obwohl sie das Meer verabscheut, akzeptiert Nora ihre Bestimmung. Als von allen behütete Außenseiterin lernt sie mit eiserner Disziplin die Choreografie des aus Netzen kunstvoll angelegten Labyrinths, veranschaulicht als Skizze im Anhang des Romans, und das abschließende brutale Abschlachten der Thunfische, die Mattanza. Ab 1979 leitet sie den Fang allein. Doch während die Dorfgemeinschaft sich mit allen denkbaren Mitteln gegen die Versuche der gräflichen Familie Filangeri stemmt, die Fischfabrik an die asiatische Konkurrenz zu verkaufen und die Unterstützung für die Tonnara einzustellen, sind andere Gegner übermächtig: die Flotten hochgerüsteter Fangschiffe aus Asien, die Eroberung der Insel durch Touristen und die Massenanlandung von Flüchtlingen aus Afrika.

Foto u. Collage: © B. Busch. Buchcover: © mare

Concerto Siciliano
Mattanza ist der mittlere Band einer 2016 in Italien erschienenen Trilogie mit dem Titel Concerto Siciliano und der erste ins Deutsche übersetzte Teil. In jedem der drei unabhängigen Romane stehen Frauen im Mittelpunkt. Während Mattanza, im Original L’Ultimo Raìs, zwischen 1960 und 2012 spielt, geht es in Motya um die sizilianische Antike und in Scilla e Cariddi um die nahe Zukunft der Insel.

Lebendige Charaktere
Überzeugt hat mich Mattanza durch den packenden Beginn, allerdings verlor Nora mit fortschreitender Handlung an Schärfe. Großartig gelingt Germana Fabiano die Charakterisierung der Inselbewohnerinnen und –bewohner, denen sie eigene Gesichter und  unvergessliche Geschichten gibt, manchmal traurig, manchmal humorvoll und immer berührend. Kaum zu ertragen war für mich die schonungslose Beschreibung des an Grausamkeit kaum zu überbietenden Abschlachtens der Thunfische und ich bin froh, dass ich wegen der Fangmethoden schon als Jugendliche aufgehört habe, Thunfisch zu essen. Auch wenn die asiatischen Fangschiffe keineswegs besser sind – nachzutrauern vermag ich der traditionellen Tonnara, die im Anhang des Buches mit Hilfe einer Skizze erklärt wird, trotz aller Kunst nicht. Es geht mir damit wie Uwe Timm mit dem Kürschnerei, der in Alle meine Geister zwar wehmütig von dieser inzwischen ausgestorbenen Handwerkskunst erzählt, sie aber trotzdem nicht zurückwünscht.

Nach Zur See von Dörte Hansen im Jahr 2022 ist Mattanza ein weiterer wichtiger Roman über die tiefgreifenden Veränderungen des Insellebens, radikaler noch, aber ebenso lesenswert.

Germana Fabiano: Mattanza. Aus dem Italienischen von Barbara Neeb und Katharina Schmidt. mare 2023
www.mare.de

Meine Lese-Highlights und literarischen Begegnungen 2023

Je mehr ich las, umso näher brachten die Bücher mir die Welt, um so heller und bedeutsamer wurde für mich das Leben. (Maxim Gorki)

© B. Busch

16 Bücher aus 14 Verlagen und unterschiedlichen Genres haben es auf meine persönliche Hitliste 2023 geschafft. Es sind Titel, die mich im Laufe des Jahres am nachhaltigsten beschäftigt haben und die zu Freunden wurden, weil sie mir die Welt nähergebracht haben. Wie immer ist mein Kriterium nicht, dass die Bücher sich bereits über lange Zeit als Klassiker bewährt haben, oder die Überzeugung, dass sie auch in hundert Jahren noch gelesen werden. Es ist eine subjektive Auswahl von Werken, denen ich im für mich genau richtigen Augenblick begegnet bin. Sie alle haben nun einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal.

oben:
Nils Freytag & Silke Schlichtmann: Lesen ist doof. Hanser 2023

im Uhrzeigersinn ab der oberen Mitte:
Robert Seethaler: Das Café ohne Namen. Claassen 2023
Tilman Spreckelsen: Otfried Preußler. Thienemann 2023
Willa Cather: Lucy Gayheart. Manesse 2023
Saša Stanišić: Wolf. Carlsen 2023
Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister. C.H. Beck 2023
Tarjei Vesaas: Der Keim. Guggolz 2023
Uwe Timm: Alle meine Geister. Kiepenheuer & Witsch 2023
Kent Haruf: Das Band, das uns hält. Diogenes 2023
Verena Keßler: Die Gespenster von Demmin. dtv 2023
Margaret Kennedy: Das Fest. Schöffling 2023
Maria Borrély: Mistral. Kanon 2023
Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis. Hanser 2023

innen:
Alex Schulman: Skynda att älska. Månpocket 2009
Alex Schulman: Endstation Malma. dtv 2023
Alex Schulman: Glöm mig. Bookmark 2020

Neben dem Lesen und einer Normandiereise im Sommer 2023 mit reichlich literarischen Impressionen werden mir von diesem Jahr drei wirklich großartige persönliche Begegnungen mit sehr sympathischen Autoren im Gedächtnis bleiben: Im Januar las Dörte Hansen in Mainz-Hechtsheim aus ihrem Roman Zur See und unterhielt sich danach locker mit ihren zahlreichen Fans, im Oktober konnte ich auf der Frankfurter Buchmesse ausführlich mit Alex Schulman sprechen, im November bin ich eigens für ein Literaturkonzert mit Edvard Hoem zu seinem Roman Der Geigenbauer 650 sehr lohnende Kilometer weit nach Hamburg gereist.

Lesung mit Dörte Hansen am 13.01.2023 in Mainz. Fotos: © M. Busch. Collage: © B. Busch
Treffen mit Alex Schulman auf der Frankfurter Buchmesse 2023. Fotos: © U. Gmähle & B. Busch. Collage: © B. Busch
Literaturkonzert mit Edvard Hoem am 14. November 2023 im TONALi Saal in Hamburg. Fotos: © R. Müller-Scheven &. B. Busch. Collage: © B. Busch

 

Allen Besucherinnen und Besuchern auf meinem Blog wünsche ich ein gesundes, Frieden bringendes und erfülltes Jahr 2024!

 

Meine Lese-Highlights früherer Jahre:

2019
2020
2021
2022

Max Richard Leßmann: Sylter Welle

  Abschiede


Max Richard Leßmann
, geboren 1991, hätte mir als Sänger, Podcaster und Instragram-Poet längst ein Begriff sein können. Da das alles jedoch außerhalb meiner Wahrnehmung lag, kannte ich ihn bis zur Frankfurter Buchmesse 2023 nicht. Erst mit einer Veranstaltung zu seinem Debütroman Sylter Welle kam es zu einer Überschneidung unserer Hemisphären und nun habe ich das autofiktionale Buch mit Freude gelesen.

Lesung mit Max Richard Leßmann auf der FBM 2023. © B. Busch

Eine Familie mit Sprengkraft
Der brennende Strandkorb auf dem pastelligen Cover von Jessine Hein warnt alle vor, die auf einen harmonischen Familienroman im idyllischen Sylt hoffen: Familie kann man sich bekanntlich nicht aussuchen. Dass einem beim Lesen die einzelnen Mitglieder trotzdem wider Willen allmählich ans Herz wachsen, ist das Verdienst von Max Richard Leßmanns liebevoll empathischer Art der Beschreibung menschlicher Stärken und Schwächen, seiner genauen Beobachtungsgabe und seinem Sinn für (Selbst-)Ironie. Jedes Familienmitglied hätte die Darstellung der anderen gelobt, mit der eigenen jedoch gehadert, berichtete der Autor auf Buchmesse. Wobei bewusst offen bleibt, welche kleineren Teile des Romans der Fiktion entspringen.

Ein letzter Sylturlaub
Fast 20 Jahre lang besuchte Max seine Großeltern im Sommerurlaub auf dem Wennigstedter Campingplatz, fernab von der Schickimicki-Szene Kampens und – Sparsamkeit als oberstes Gebot – ohne offizielle Anmeldung. Nun haben die Großeltern altershalber ihren Wohnwagen verkauft und sich in einer hässlichen Beton-Bettenburg mit Meerblick namens Sylter Welle unweit des gleichnamigen Spaßbades in Westerland eingemietet, erstmals ohne selbst angebaute Kartoffeln im Gepäck. Es soll ihr letzter Sylturlaub sein und Enkel Max besucht sie für drei Tage, über denen Abschiedsstimmung liegt. Einerseits scheinen ihm Oma Lore und Oppa Ludwig seit 30 Jahren optisch und mit ihren Eigenarten unverändert und „Enkel bleibt man für immer“ (S. 14), andererseits sind die Zeichen mentalen und körperlichen Verfalls des Großvaters unübersehbar und erfordern einen phasenweisen Rollentausch.

„Wen von diesen ganzen Leuten würdest du eigentlich mögen, wenn es nicht deine Familie wäre?“ (S. 157)
Oma Lore ist seit jeher die „Feldherrin unserer ganzen Familie“ (S. 49), der nicht einmal die heißblütige Schwiegertochter Paroli bieten kann:

Meine Mutter ist eine sture Frau. Aber Oma Lore ist nun einmal sturer. (S. 16)

Härte ist ihr Markenzeichen, Anerkennung erntet Max höchstens, wenn er sich ihren Fütterungsattacken bis zur halben Bewusstlosigkeit gewachsen zeigt, Mitleid gab es nicht einmal bei einem Badeunfall im Teenageralter („Du tust dir doch selbst schon leid genug“, S. 125), dafür sahen die Großeltern schwarz für die Zukunft des „unkontrollierten“ Enkels: „zu laut, zu frech, zu viel“ (S. 107). Nach und nach erklärt sich vieles, was zu Beginn abschreckt, aus der Biografie der Großeltern. Die Flucht des Großvaters als Kind aus Schlesien, seine Verstoßung aus der Familie, weil er eine Westfälin mit der falschen Religion heiratete, zwei Krebserkrankungen der Großmutter und der Verlust von zwei Kindern machen ihre symbiotische Obsession für Stabilität, regelmäßige Mahlzeiten, heterosexuelle Partnerschaften und bürgerliche Berufe mit geregeltem Einkommen zumindest verständlich:

[…] weil Dinge, die mir anderenorts unerträglich scheinen, bei meinen Großeltern zumindest gerade so eben aushaltbar waren.
Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, ist das eine ziemlich präzise Definition von Liebe. (S. 82)

Ein weiterer Abschied liegt in der Luft, auch wenn Max sich dem noch zu entziehen versucht:

Wenn die Ignoranz meiner Großeltern unsterblich ist, dann sind sie es ja vielleicht einfach auch. (S. 217)

Ein empfehlenswertes Erinnerungsbuch mit der richtigen Balance zwischen Lachen und Wehmut.

Max Richard Leßmann: Sylter Welle. Kiepenheuer & Witsch 2023
www.kiwi-verlag.de

Alex Schulman: Skynda att älska

  Verdrängte Trauer

Die Bücher von Alex Schulman begleiten mich seit 2021, als mit Die Überlebenden sein erster Roman auf Deutsch erschien, gefolgt 2022 von Verbrenn all meine Briefe und Endstation Malma 2023. Noch nicht ins Deutsche übersetzt sind die Titel über seine Eltern: Glöm mig, das Buch über seine alkoholabhängige Mutter aus dem Jahr 2016, und  Skynda att älska über seinen Vater von 2009. Nur elf Tage hat er für dieses Debüt gebraucht, zwei Jahre dagegen für Endstation Malma. Mit dem sehr berührenden, zarten und nachdenklichen Buch über seine Beziehung zu seinem Vater Allan Schulman (1919 – 2003), einem in Schweden sehr bekannten TV- und Radio-Produzenten und -Regisseur, überraschte der 1976 geborene Alex Schulman seine Landsleute, die ihn bis dahin als Enfant terrible der Blogger- und Zeitungswelt kannten.

Foto: © B. Busch. Buchcover: © Månpocket und Bookmark

Fünf Jahre Verdrängung
Im Jahr 2008, fünf Jahre nach dem Tod seines Vaters, fuhr Alex Schulman erstmals wieder ins Sommerhaus der Familie nach Värmland. Dort, wo er alle Sommer zwischen sechs und achtzehn verbracht hatte, war der Vater präsent wie sonst nirgendwo. Weil er weiterhin nicht über ihn reden oder sich in seinem Zimmer aufhalten konnte und schwere Jahre mit unverständlichen Entscheidungen hinter sich hatte, suchte er nach diesem missglückten Besuch einen Therapeuten auf. Bei der Beerdigung war er nicht zusammengebrochen, nun erkannte er, dass dieser Triumpf keiner war:

Det tog fem år för mig att inse att den sanna triumfen ligger i att faktist göra det. (S. 226)

[Ich habe fünf Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass der wahre Triumph darin liegt, es tatsächlich zu tun.]

Vertauschte Rollen
Zwei Besuche im Sommerhaus im Abstand von drei Monaten bilden den Rahmen des Buches mit Erinnerungen an die gemeinsame Zeit. Der Vater war bei Alex Schulmans Geburt bereits 56 Jahre alt, 32 Jahre älter als die Mutter, hatte vier erwachsene Kinder und betrachtete die neue Familiengründung als zweite Chance. Wie rote Fäden ziehen sich Gespräche von Alex Schulman mit seinem Therapeuten durchs Buch, ebenso der ab 1987 alljährlich an Mittsommer vom Vater für seine drei jüngsten Söhne veranstaltete Coca-Cola-Cup. Zunehmend wurde dieser Fußballwettbewerb zum Kampf gegen dessen Alter und passten die Söhne die Regeln zu seinem Schutz an. Früh war sich Alex Schulman der Unterschiede zu den Vätern seiner Kameraden bewusst, sorgte sich schon als Kind um ihn, litt unter dem Spott der Mitschüler, spürte die väterliche Angst vor dem Tod und beschützte ihn zusammen mit seinen Brüdern, was in den Worten des Therapeuten einer Umkehrung der Rollen gleichkam:

Du blev pappa till din pappa. (S. 122)

[Du bist zum Vater deines Vaters geworden.]

Alex Schulman auf der Frankfurter Buchmesse 2023. © B. Busch

Der Titel Skynda att älska (Beeil dich zu lieben) stammt aus der wunderbar wehmütigen Höstvisa (Herbstweise) der finnland-schwedischen Schriftstellerin Tove Jansson (1914 – 2001), einem Lieblingslied des in Helsinki geborenen Vaters. Das Buch liest sich wie ein langer Abschiedsbrief an einen Mann, der die Familie mit der Stoppuhr kontrollierte, beruflich als Choleriker galt und trotzdem ein liebevoller Vater war. Dass er die Alkoholsucht der Mutter ignorierte und die Söhne nicht vor den dramatischen Folgen schützte, erfährt man erst im nach ihrem Tod entstandenen Glöm mig.

Ergreifend Trauer
Wie in allen Büchern von Alex Schulman war ich ab dem ersten Satz mitgerissen von den lebendigen Szenen, der glasklaren Sprache und den Reflexionen, der Schilderung von herzergreifender Trauer und der klugen Struktur – alles beinahe schon wie in seinen späteren Romanen, in denen man viele Parallelen zur Biografie findet.

Alex Schulman: Skynda att älska. Månpocket 2009
www.bonnierforlagen.se

 

Weitere Rezensionen zu Büchern von Alex Schulman auf diesem Blog:

  Schulman    

Uwe Timm: Alle meine Geister

  Handwerk und Schreiben

Der die Existenz bestimmende Zufall bringt die Freiheit der Wahl mit sich, jemand, der ein gutes Blatt bekommen hat, kann ein schlechtes Spiel machen und verlieren, ein anderer mit schlechten Karten macht ein gutes, überlegtes Spiel und gewinnt. (S. 164)

Ein Buch des 1940 in Hamburg geborenen Uwe Timm zur Hand zu nehmen, heißt für mich, mit den ersten Sätzen in der Lektüre anzukommen. Besonders gilt das für seine Erinnerungsbücher. Alle meine Geister reiht sich zeitlich nach Am Beispiel meines Bruders (2003) ein, in dem Uwe Timm auf höchst ergreifende Weise dem Schicksal seines 1943 gefallenen Bruders nachspürt und der Frage, warum der sich als 18-Jähriger freiwillig zur Waffen-SS meldete. Am Ende von Alle meine Geister steht der Aufbruch aus der Enge Hamburgs ans Braunschweig-Kolleg, wo Uwe Timm sich ab 1961 zusammen mit Benno Ohnesorg auf sein Abitur vorbereitete, Stoff von Der Freund und der Fremde (2005).

Foto: © B. Busch. Buchcover: © Kiepenheuer & Witsch

Kein Wunschberuf
Den Beruf des Kürschners hatte sich Uwe Timm nicht ausgesucht, genauso wenig wie sein Vater, dessen Einstieg in die Selbstständigkeit im Pelzgeschäft der Fund einer Pelznähmaschine im Nachkriegs-Hamburg war. Nun wurde der Sohn, der einer Rechtschreibschwäche wegen nach väterlicher Ansicht nicht zum Abitur taugte, als knapp Fünfzehnjähriger beim soliden Hamburger Pelz- und Modehaus Levermann in die Lehre geschickt – als Nachfolger für Pelze Timm.

Prägende Jahre verbrachte der junge Uwe Timm in der streng hierarchisch geprägten Werkstatt nahe dem Rathaus, lernte die heute nahezu vergessenen Fertigkeiten, das Vokabular und die jahrhundertealten Geheimnisse der Kürschnerei, hörte die Geschichten der Meister, Gesellen, Näherinnen und Kundinnen von Krieg, Heldentum, Flucht und Vertreibung, aber auch vom Jazz und von Amerika. Heimlich frönte er im Sortierzimmer dem „zufällige[n], anarchistisch[en] Lesen“ (S. 272) von Roald Amundsen über Salinger, Benn, Dostojewski, Tostoi und Schopenhauer bis Brecht, Camus, Bachmann und Heißenbüttel. Der SS-Staat von Eugen Kogon, entliehen vom Meister Walther Kruse, befeuerte den Dauerkonflikt mit dem Vater über das Schweigen im Nationalsozialismus. Der frühe Tod des Vaters 1958 kurz nach der mit Auszeichnung bestandener Gesellenprüfung des Sohnes beendete nach drei Monaten dessen Besuch des Abendgymnasiums. Obwohl er Pelze Timm bis 1960 in die schwarzen Zahlen zurückführte, übergab Uwe Timm das Geschäft an seine Mutter, um ab 1961 in Braunschweig die Voraussetzungen für ein Studium und die erträumte Schriftstellerlaufbahn zu schaffen.

Foto und Collage: © B. Busch. Buchcover: © Kiepenheuer & Witsch

Die Möglichkeit des Gelingens
Ich habe auch dieses dritte Erinnerungsbuch von Uwe Timm mit Freude und Begeisterung gelesen und ihm beim Staunen über Erinnern und Vergessen über die Schulter geblickt:

Wie eigentümlich sich Details, ohne ihre tiefere Bedeutung zu verraten, in unsere Erinnerung beharrlich gegen das Vergessen verkapseln. (S. 123)

Alle meine Geister ist eine Hommage an eine, durch veränderte Umstände auch in den Augen des Autors glücklicherweise untergegangene Handwerkstradition, eine Sammlung von Anekdoten und empathisch gezeichneten Porträts, Nachkriegsgeschichte, Entwicklungs- und Bildungsroman und vor allem Zeugnis der Faszination für gute Literatur:

Das Erstaunliche ist, dass diese hohe Perfektion nicht entmutigt, sondern ein Versprechen auf die Möglichkeit des Gelingens gibt… (S. 177)

Mit den als Kürschner erlernten Fähigkeiten des sorgfältigen Sortierens und ästhetischen Anordnens hat Uwe Timm hier ein exakt solch gelungenes Stück Literatur geschaffen.

Interview und Lesung mit Uwe Timm am 10.11.2023 im Literaturhaus Stuttgart. Moderation: Olaf Petersen, ehemaliger Lektor von Uwe Timm. © M. Busch

Uwe Timm: Alle meine Geister. Kiepenheuer & Witsch 2023
www.kiwi-verlag.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen und einem Kinderbuch von Uwe Timm auf diesem Blog:

           

Stephanie Bishop: Der Jahrestag

  Tragödie auf hoher See

Nicht jede Wahrheit kann fiktional erfasst werden, aber ich weiß, dass ich mir selbst gegenüber ehrlicher bin, wenn ich einen fiktionalen Text schreibe, als wenn ich vorgebe, die Wahrheit zu sagen. (S. 423)

Eine Kreuzfahrt zum 14. Hochzeitstag soll die Ehe der erfolgreichen Schriftstellerin Lucie, Künstlername J.B. Blackwood, und dem bekannten Filmregisseur Patrick Heller retten. Was an einer australischen Universität als Beziehung zwischen einer 24-jährigen Studentin und ihrem allseits verehrten, charismatischen britischen Dozenten begann und jahrelang ihrer beider Arbeit bestens befruchtete, endet nahe der russischen Halbinsel Kamtschatka mit einer Tragödie. Was geschah während des Sturms an Deck der „Adventure of the Seas“ wirklich und wie konnte es dazu kommen?

Jegliche Einschätzung dessen, was zeitgleich geschieht, wird durch das, was davor geschah, kontextualisiert. (S. 326)

Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © dtv

Wahrheit und Fiktion
Zur Beantwortung dieser Fragen sind die Leserinnen und Leser ausschließlich auf Lucies Bericht angewiesen, in deren Kopf wir uns über die gesamten 461 Seiten des Romans befinden. Er erweist sich schnell als ebenso fragwürdig wie absichtsvoll. Die australische Autorin und Literaturwissenschaftlerin Sarah Bishop, die im britischen Norwich lebt und dort kreatives Schreiben unterrichtet, liefert uns einer durch und durch unzuverlässigen Erzählerin aus, bei der Wahrheit und Fiktion ein undurchdringliches Dickicht bilden. Immer wieder erzählt Lucie Episoden auf unterschiedliche Art und Weise, flüchtet mit ihrer diffusen Erzählstimme in kleinteilige Details, um vom Wesentlichen abzulenken, und streut selbst Zweifel an ihrem Erinnerungsvermögen und an ihrer Glaubwürdigkeit, wie hier bei der Vernehmung durch die japanische Polizei:

Ich konnte ihnen nicht sagen, dass ich nur allzu oft meine eigene Version des Erlebten in Zweifel ziehe. (S. 47)

Ungleiche Machtdynamik
Der Jahrestag kein Krimi, wie man vielleicht vermuten könnte. Eher handelt es sich um einen Ehe- und Künstlerroman, der das Machtgefälle in einer Beziehung thematisiert, in der der männliche Teil wesentlich älter und bereits erfolgreich ist, während die weibliche Karriere erst beginnt. Die scharfsinnigen, bisweilen von subtilem Humor grundierten Überlegungen zu patriarchalen Strukturen in Ehe und Literaturbetrieb und zur Frage, wieviel autobiografisches Schreiben und weiblichen Erfolg eine Ehe verträgt, sowie zu den Unterschieden zwischen Literatur und Film sind das Plus des Romans.

Opfer oder nicht?
Allerdings hat mich weder der Plot noch die Protagonistin überzeugt, die für mich als Figur nicht schlüssig ist. Nie hatte ich ein Bild von ihr vor Augen, genausowenig wie von ihrem Roman, der im Buch eine entscheidende Rolle spielt, selten gelang es mir, äußere Geschehnisse und Erzählinhalt zusammenzubringen. Weder die Opferrolle noch die ständig betonte Schwäche oder die Klagen über Fremdbestimmung habe ich ihr geglaubt. Im Gegenteil hat mich das Fehlen jeglicher Selbstkritik, die permanenten Anklagen und die Ungereimtheiten, wenngleich beabsichtigt, zunehmend ermüdet. Bei einigen Details habe ich mich gefragt, was unzuverlässige Erzählstimme und was mangelnde Recherche der Autorin ist.

Interessant sind dagegen die vielen Schauplätze auf verschiedenen Kontinenten von Großbritannien über Japan, die USA und Australien, die gut zu Lucies Atemlosigkeit passen. Erst auf den letzten Seiten ändert sich der Erzählton, passend zu ihrer neuen Situation, was für mich allerdings die Frage nach der Erzählzeit des Hauptteils aufwirft.

Der Jahrestag ist die perfekte Lektüre für alle, die beim Lesen gerne rätseln. Mir waren es einige Rätsel und Ungereimtheiten zuviel.

Stephanie Bishop: Der Jahrestag. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. dtv 2023
www.dtv.de

Willa Cather: Lucy Gayheart

  Was bleibt

 

Zu ihrem 150. Geburtstag beschenkt der Verlag Manesse die amerikanische Autorin Willa Cather (1873 – 1947) und sein Publikum mit einer wunderschönen Neuausgabe ihres elften Romans Lucy Gayheart im bekannt kleinen Format mit bunter Fadenheftung und Lesebändchen. Über 60 Jahre alt und bereits mit dem Pulitzer-Preis dekoriert war die Autorin 1935 beim Erscheinen ihres vorletzten Romans, mehr als dreimal so alt wie ihre Protagonistin.

Erinnerungen
Bereits zu Beginn erfahren wir, dass Lucy Gayheart für die Bewohnerinnen und Bewohner ihres fiktiven Heimatstädtchens Haverford, Nebraska, nur noch als schöne Erinnerung weiterlebt. Gerne denken sie an den Wirbelwind zurück, der unbekümmert, heiter, charmant, voller Romantik war. Im Winter liebte sie das Schlittschuhlaufen auf dem zugefrorenen Platte River, eine Vorliebe, die so gut zu ihrem Wesen passte wie das Schaukeln zu Theodor Fontanes Effi Briest. Gelegentlich schloss sich ihr der acht Jahre ältere, vermögende Kleinstadtbankier Harry Gordon an, ein junger Mann, der eine bessere Partie hätte machen können, doch wie alle Haverforder dem Zauber Lucys seit langem erlegen war und allgemein als ihr zukünftiger Ehemann galt.

Foto: © B. Busch. Cover: © Manesse

Eine Begegnung, die alles verändert
In den Weihnachtferien 1901 war Lucy, die inzwischen im entfernten Chicago Klavier studierte und Musikunterricht erteilte, zurück in Haverford. Ungezwungen, fast noch kindlich glitt sie mit Harry über den zugefrorenen Fluss, aber etwas hatte sich verändert. Nun freute sie sich mehr als sonst auf die Rückkehr in die Großstadt, nicht nur wegen ihres eigenen Zimmers, dank dem sie „frei wie ein junger Mann kommen und gehen“ (S. 32/33) konnte, sondern auch wegen eines Vorstellungstermins beim bekannten Bariton Clement Sebastian, der eine Klavierbegleitung für seine Übungsstunden suchte. Ein Besuch seines Konzertes im letzten Herbst hatte sie spontan für diesen knapp fünfzigjährigen, verheirateten Künstler entflammt, überwältigt von seiner ausdrucksstarken Vortragsweise des Schubert‘schen Liedguts und seiner schwermütigen Ausstrahlung. Verändert kehrte sie an diesem Abend in ihr Zimmer zurück:

Vom ersten Tag an war sie in Chicago glücklich gewesen und hatte sich für vom Schicksal begünstigt gehalten, weil sie aus ihrem kleinen Heimatort in die große Stadt hatte fliehen können […]. Aber jene Zeiten lagen weit zurück. An dem Abend, als sie zum ersten Mal Clement Sebastian gehört hatte, begann für sie ein neues Leben. Zuvor hatte sie nur mit Nichtigkeiten und Träumereien herumgespielt. (S. 113/114)

Von nun an hing Lucys Glückseligkeit von der Anwesenheit dieses Mannes in der Stadt ab, pendelnd zwischen Hoffen und Bangen. Über ein Jahr – bis zur Weihnachtszeit 1902 – folgt man lesend und bangend ihrem Schicksal in Chicago und Haverford und schließlich, im dritten Teil des Romans, den Gedanken des nachdenklichen, veränderten Harry Gordon von 1927, die das Buch äußerst gekonnt abrunden.

Fußspuren
Begeistert und ergriffen habe ich diesen modernen, überhaupt nicht verstaubten Klassiker über drei Menschen mit völlig unterschiedlicher Beziehung zur Zeit gelesen. Während Sebastian der Vergangenheit nachhängt, träumt Lucy von der Zukunft und will Harry die Gegenwart beherrschen. Obwohl von zarter Melancholie durchzogen, ist es dank Willa Cathers überragender Erzählkunst kein trauriges Buch. Mit wunderbaren Bildern aus der Musik und der Natur Nebraskas, in denen sich die Stimmungen und das Gefühlsleben der Haupt- und Nebenfiguren spiegeln, erzählt sie völlig ohne Kitsch eine zu Herzen gehende Geschichte über hochfliegende Träume. Sie wird die Zeit ebenso überdauern wie die sorgsam von Harry gehüteten Fußabdrücke der übermütigen Dreizehnjährigen im noch nicht festen Beton vor ihrem Haus.

Willa Cather: Lucy Gayheart. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Elisabeth Schnack. Für die Neuausgabe durchgesehen von Susann Ostwald. Nachwort von Alexa Hennig von Lange. Manesse Verlag 2023
www.penguin.de/Verlag/Manesse