Julian Gough & Jim Field: Rotzhase & Schnachnase – Möhrenklau im Bärenbau

Ein aufregender Wintertag

Bär und Hase sind Nachbarn, und so nutzt Rotzhase den Winterschlaf von Schnarchnase aus, um deren Vorräte zu klauen. Als Bär davon mitten im Winter erwacht, beginnt sie trotzdem, gut gelaunt einen Schneemann zu bauen. Hase dagegen ist ein Griesgram, weiß alles besser, speist Bär mit seiner schrumpeligsten, schlabberigsten, gammeligsten Möhre ab und ist sich zu fein, um bei Bärs Schneemann mitzubauen. Doch Bär lässt sich den Spaß nicht verderben und als sie Rotzhase vor dem  Wolf rettet, werden beide doch noch dicke Freunde.

Bestechend an diesem Vorlese- und Erstlesebuch sind die schwarz-grau-weiß-blauen Illustrationen von Jim Field, die sich so wohltuend vom grellbunten Bilderbuch-Allerlei abheben. Wirklich jede Szene des kleinformatigen Buches ist großzügig bebildert und die Gesichtsausdrücke der Tiere spiegeln sehr deutlich ihre jeweilige Gemütslage wider.

Die kurzen Textsequenzen von Julian Gough in großer Schrift mit zumeist einfachem Vokabular können bereits ab dem Ende der ersten Klasse bewältigt werden, zum Vorlesen eignet sich das Buch bereits ab etwa vier Jahren.

Neben den Themen Freundschaft und Eigentum geht es auch um die unterschiedlichen Ernährungsweisen der Tiere und deren Folgen: Welche Nahrung hat wieviel Energie? Warum wäre der Wolf manchmal lieber Vegetarier? Und warum müssen Hasen ihre eigenen Köttel fressen?

Gestolpert bin ich darüber, dass „Bär“ eine Bärendame ist und folgerichtig das Personalpronomen „sie“ verwendet wird. Eleganter und besser verständlich wäre für mich die Übersetzung „Bärin“.

Möhrenklau im Bärenbau – wobei Hase eigentlich keine Möhren, sondern Honig, Lachs und Käfereier mopst – ist der erste Band einer humorvollen Reihe um das ungleiche Duo „Rotzhase & Schnachnase“ aus dem Magellan Verlag. Auf weitere Abenteuer kann man sich freuen!

Julian Gough & Jim Field: Rotzhase & Schnachnase – Möhrenklau im Bärenbau. Magellan 2018
www.magellanverlag.de

J. Courtney Sullivan: All die Jahre

Ein unheilvolles Familiengeheimnis

J. Courtney Sullivan, US-amerikanische Autorin und Journalistin, hat in ihren Romanen eine Vorliebe für Familientreffen. In Sommer in Maine treffen verschiedene Familienmitglieder überraschend im gemeinsamen Ferienhaus zusammen, in All die Jahre ist es ein Todesfall, der alle zusammenführt. In beiden Romanen zeigt sich, dass zulange geschwiegen wurde und das Bewahren von Geheimnissen nur Unheil gebracht hat.

1957 kommen die Schwestern Nora und Theresia Flynn aus Westirland, County Clare, nach Boston, wo Noras ehemaliger Nachbar und Verlobter Charlie Rafferty sie erwartet. Nicht aus Liebe ist die 21-jährige Nora gekommen, sondern um ihrer jüngeren, begabten Schwester ein Schicksal in der Strickfabrik zu ersparen. Während Nora, die Theresa schon immer die Mutter ersetzt hat, schüchtern, still und ängstlich ist und die Eheschließung mit Charlie hinauszögert, genießt Theresa die neuen Freiheiten und hat den Kopf voller Träume. Als sie ungewollt schwanger wird, gibt es für Nora nur eine Alternative: Theresa wird das Kind heimlich bekommen und Charlie und sie werden es als ihr eigenes ausgeben.

Patrick, Theresas Sohn, wächst zusammen mit Noras und Charlies Kindern John, Bridget und Brian auf. Nie werden sie ihnen das Geheimnis enthüllen, doch spürt Patrick schon als Jugendlicher, dass etwas nicht stimmt. Obwohl er im Mittelpunkt steht, worunter vor allem John leidet, ist er doch einsam und das schwarze Schaf der Familie, wild und unbeherrscht. Nora kämpft für ihn, aus der schüchternen Frau ist eine Löwin geworden, aber sie kann nicht verhindern, dass Patrick zu viel trinkt und schließlich 2009, zu Beginn des Romans, bei einer Autofahrt unter Alkoholeinfluss ums Leben kommt. Zur Beerdigung sagt sich überraschend auch Theresa an, die seit 1960 als Schwester Cecilia in der Abtei der Unbefleckten Empfängnis in Vermont lebt, und von deren Existenz keines der Geschwister weiß.

Sehr gut gefallen haben mir die Rückblenden in die Zeit von 1957/58, als die Schwestern Irland verlassen, und in das Leben der irisch-katholischen Einwanderer in die USA. Interessant beschrieben ist auch der Weg Theresas ins Kloster, ihre anfänglichen Zweifel, ihre Wut darüber, dass man ihr – wie allen zu dieser Zeit ungewollt Schwangeren – keine Wahl gelassen hat, und ihre trotz dieses anhaltenden Schmerzes gefundene Lebenszufriedenheit. Schwieriger fand ich dagegen Nora, die so viele Opfer gebracht, und trotzdem durch ihre Strenge, ihren Ernst, ihre Sprachlosigkeit und die verzweifelte Wahrung ihres Geheimnisses bis hin zum Bruch mit ihrer Schwester, sich und ihre Kinder nicht glücklich gemacht hat.

J. Courtney Sullivan hat wieder einen interessanten, gut zu lesenden, sehr unterhaltsamen Familienroman geschrieben über eine Familie, in der „die Wahrheit… verspätet, zufällig, unter Alkoholeinfluss oder überhaupt nicht ans Tageslicht“ kommt. Am Ende bleibt manches offen, doch keimt an vielen Stellen Hoffnung auf.

J. Courtney Sullivan: All die Jahre. Deuticke 2018
www.hanser-literaturverlage.de

Annejet van der Zijl: Die amerikanische Prinzessin

„Courage all the time“ – Nie den Mut verlieren!

Während der Recherchen zu ihrer Dissertation über Prinz Bernhard der Niederlande stieß die Historikerin und Autorin Annejet van der Zijl 2009 auf den Namen der Amerikanerin Allene Tew, der „ein wenig mysteriösen amerikanischen Tante“ des Prinzgemahls der holländischen Königin Juliane. Spontan beschloss sie, über diese Frau, deren Leben wie ein „phantastischer, dramatischer, farbenprächtiger Film“ war, ein Buch zu schreiben. Am Ende sind es, wie sie selbst im Nachwort schreibt, drei Bücher in einem geworden: „Es ist eine wundersame Lebensgeschichte, die so voller Wendungen steckt, dass sie sich für mich fast wie ein Abenteuerroman anfühlt. Es kann auch als kleine Geschichte Amerikas gelesen werden. Und schließlich ist es meine sehr persönliche kleine Studie über die Frage: Wie geht man mit Verlusten um.“ Und genau diese rundum geglückte Kombination hat mich an dieser Biografie, die eben sehr viel mehr als ein nacherzähltes Leben ist, so begeistert.

Allene Tew wurde 1872 als Nachfahrin der zweiten Generation einer erfolgreichen Pionierfamilie am Chautauqua-See im Bundesstaat New York geboren, doch war ihr Vater der einzige in der Familie, der nicht mühelos in die großen Fußstapfen der ersten Generation trat. Ausgestattet mit auffallender Schönheit, einem beachtlichen Durchsetzungswillen und voller Interesse für die Welt und die Menschen, schaffte sie einen kometenhaften Aufstieg und hinterließ bei ihrem Tod 1955 ein Vermögen von 24 Mio. Dollar. Fünf Ehen führte sie, wovon sie die ersten beiden hauptsächlich ihrer Schönheit verdankte, die dritte, einzig wirklich glückliche, der Liebe, und für die vierte und fünfte war vor allem ihr inzwischen erworbenes Vermögen ausschlaggebend. Die Verluste, die sie erlitt und überlebte, hätten anderen den Lebensmut geraubt, nicht so jedoch Allene. Wie ein Stehaufmännchen erzwang sie stets einen positiven Fortgang, verlor nie die Freude am Leben und fand gemäß ihrem Motto: „Courage all the time – nie den Mut verlieren“ immer wieder eine Form des Glücks, sei es in einer neuen Ehe, in Reisen, in ihren zahlreichen Immobilien in den USA oder Frankreich oder in den „Ersatzkindern“, deren sie sich nach dem Tod der eigenen Kinder annahm, darunter der jungen Bernhard zur Lippe-Biesterfeld.

Doch wie bereits gesagt, ist Die amerikanische Prinzessin viel mehr als nur die Lebensgeschichte einer beeindruckenden Frau. Da sie ein Luxusnomadenleben führte, ist es auch mehr als nur eine amerikanische Geschichte. Durch ihre Aufenthalte in England und Frankreich, ihre Ehen mit einem deutschen Prinzen und einem russischen Grafen und ihre enge Verbindung zum niederländischen Königshaus als Patin der Ex-Königin Beatrix, ist es auch eine europäische Geschichte.

Annejet van der Zijls Biografie einer Frau, deren Leben man nicht abenteuerlicher hätte erfinden können, liest sich spannend, leicht und sehr unterhaltsam, und hat mich angesichts der unglaublichen Fakten immer wieder aufs Neue überrascht. Dabei vermeidet die Autorin jede Sensationshascherei und bleibt streng bei dem, was sie in den zahlreichen, im Quellenverzeichnis aufgeführten Büchern und der amerikanischen Presse über Allene Tew finden konnte. Zwei Bilderbogen, ein Personenregister, ein Stammbaum und eine Landkarte runden das absolut gelungene Buch aus dem Theiss Verlag ab, das ich mit großem Gewinn und Vergnügen gelesen habe.

Annejet van der Zijl: Die amerikanische Prinzessin. Theiss 2018
www.wbg-wissenverbindet.de

Petra Maria Schmitt & Christian Dreller: Warum brauchen Haie keinen Zahnarzt?

22 Sachgeschichten für wissbegierige Kinder ab fünf Jahren

Kinderfragen sind berüchtigt und nicht selten blamieren wir Erwachsenen uns beim spontanen Antwortversuch. Auch bei den 22 Kinderfragen in diesem Sachbuch hätte ich teilweise keine allzu gute Figur abgegeben, und selbst wenn ich sie hätte beantworten können, dann bestimmt nicht so unterhaltsam und kindgerecht wie Petra Maria Schmitt und Christian Dreller. Die beiden Autoren kombinieren die Sachinformationen mit Rahmengeschichten, die die Fragen logisch entwickeln und in eine Alltagssituation aus der Erlebniswelt der Kinder einbetten.

Anworten gibt es in diesem Band auf folgende Fragen:

  • Warum brauchen Haie keinen Zahnarzt?
  • Kann man im Hanstand essen und trinken?
  • Können sich Pflanzen unterhalten?
  • Warum bekommen Pinguine keine kalten Füße?
  • Warum haben Indianer keinen Bart?
  • Warum fallen Vögel beim Schlafen nicht vom Baum?
  • Wieso sehen Fledermäuse mit den Ohren?
  • Warum knurrt manchmal unser Magen?
  • Warum gibt es so viele Sprachen?
  • Warum heben Hunde beim Pipimachen ihr Bein?
  • Brauchen Eskimos Kühlschränke?
  • Warum haben Giraffen so einen langen Hals?
  • Warum können Schiffe schwimmen?
  • Wie kommen die Streifen in die Zahnpasta?
  • Warum bekommen wir einen Schluckauf?
  • Ist das Faultier wirklich faul?
  • Wie entstehen Blitz und Donner?
  • Warum spucken Vulkane Feuer?
  • Warum haben Kamele einen Höcker?
  • Warum haben Omas und Opas weiße Haare?
  • Warum ist das Meer blau?
  • Warum muss man weinen, wenn man traurig ist?

Jede Geschichte umfasst vier bis sieben Seiten und vermittelt spielerisch Wissen, ohne dabei belehrend zu wirken. Die bunten Bilder von Heike Vogel illustrieren altersgerecht sowohl die Rahmenhandlungen als auch die Sachinformationen.

Warum brauchen Haie keinen Zahnarzt ist ganau das richtige Vorlesebuch für neugierige Vorschulkinder und vor allem für Grundschülerinnen und Grundschüler, die das Buch ab der vierten Klasse auch selbst lesen können. Nicht nur sie alle werden Überraschendes erfahren, auch die Erwachsenen können in diesem hochwertig hergestellten, preisgünstigen Kindersachbuch unterhaltsam dazulernen.

Petra Maria Schmitt & Christian Dreller: Warum brauchen Haie keinen Zahnarzt? Ellermann 2016
www.ellermann.de

Petra Maria Schmitt & Christian Dreller: Wo geht der Astronaut aufs Klo?

22 Sachgeschichten für wissbegierige Kinder ab fünf Jahren

Kinderfragen sind berüchtigt und nicht selten blamieren wir Erwachsenen uns beim spontanen Antwortversuch. Auch bei den 22 Kinderfragen in diesem Sachbuch hätte ich teilweise keine allzu gute Figur abgegeben, und selbst wenn ich sie hätte beantworten können, dann bestimmt nicht so unterhaltsam und kindgerecht wie Petra Maria Schmitt und Christian Dreller. Die beiden Autoren kombinieren die Sachinformationen mit Rahmengeschichten, die die Fragen logisch entwickeln und in eine Alltagssituation aus der Erlebniswelt der Kinder einbetten.

Anworten gibt es in diesem Band auf folgende Fragen:

  • Warum kann man sich nicht selbst kitzeln?
  • Warum hat ein Igel Stacheln?
  • Warum fallen wir nicht von der Erde?
  • Warum essen wir mit Messer und Gabel?
  • Hat ein Tausendfüßler wirklich 1000 Füße?
  • Warum tut Haareschneiden nicht weh?
  • Wer knipst das Licht im Kühlschrank an und aus?
  • Was hört man in einer Meeresschnecke rauschen?
  • Wie kommt das Küken in das Ei?
  • Warum geben wir uns die rechte Hand?
  • Warum jucken Mückenstiche?
  • Warum haben Zebras Streifen?
  • Wo geht der Astronaut aufs Klo?
  • Wie kommt der Regen in die Wolken?
  • Warum müssen wir schlafen?
  • Kann man mit den Fingern lesen?
  • Warum gibt es Berge?
  • Warum schnurren Katzen?
  • Warum ist Feuer heiß?

Jede Geschichte umfasst fünf bis acht Seiten und vermittelt spielerisch Wissen, ohne dabei belehrend zu wirken. Die bunten Bilder von Heike Vogel illustrieren altersgerecht sowohl die Rahmenhandlungen als auch die Sachinformationen.

Wo geht der Astronaut aufs Klo ist ganau das richtige Vorlesebuch für neugierige Vorschulkinder und vor allem für Grundschülerinnen und Grundschüler, die das Buch ab der vierten Klasse auch selbst lesen können. Nicht nur sie alle werden Überraschendes erfahren, auch die Erwachsenen können in diesem hochwertig hergestellten, preisgünstigen Kindersachbuch unterhaltsam dazulernen.

Petra Maria Schmitt & Christian Dreller: Wo geht der Astronaut aufs Klo? Ellermann 2015
www.ellermann.de

Juli Zeh: Leere Herzen

Eine sehr düstere Zukunftsvision

Da ich normalerweise kaum Dystopien und selten Politthriller lese oder höre, war Juli Zehs neuer Roman Leere Herzen eine Herausforderung für mich. Aufgrund der Denkanstöße hat sich das Hörbuch definitiv für mich gelohnt, auch wenn mich die Umsetzung des Themas nicht ganz überzeugen konnte und der erhobene Zeigefinger zu deutlich spürbar war.

Die Handlung versetzt Leser und Hörer ins Deutschland des Jahres 2025. Angela Merkel hat ihr Amt verloren, neue Regierungsmacht ist durch demokratische Wahl die BBB, die „Bewegung der Besorgten Bürger“. Das bedingungslose Grundeinkommen hält die Bürger ruhig, die Effizienzpläne der Regierung schaffen die Demokratie in kleinen Schritten ab, Grundrechte werden eingeschränkt, das Ende von EU und UNO scheint absehbar. Die Deutschen haben sich ins Private zurückgezogen, kritische Stimmen hört man kaum noch.

Britta, Mitte 30, hat sich in dieser Welt gnadenlos perfekt eingerichtet. Zusammen mit Babak, einem Iraner, hat sie im unauffälligen Braunschweig die „Heilpraxis für Self-Managing und Ego-Polishing“ mit dem Namen „Die Brücke“ gegründet, die offiziell potentielle Selbstmordkandidaten therapiert. In Wirklichkeit filtert das boomende Unternehmen jedoch mittels eines brutalen Auswahlmodus die untherapierbaren Hardcore-Kandidaten heraus, die dann an Terrorgruppen jedweder Couleur als Selbstmordattentäter vermittelt werden. Doch nun hat es einen Anschlag gegeben, den keiner von Brittas und Babaks Kandidaten verübt hat. Gibt es eine neue Konkurrenz auf diesem Markt, den die beiden bisher allein beherrscht haben? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Britta, Babak und ihr Geschäftsmodell?

Die Idee hinter diesem Roman ist ebenso schräg wie bedrückend, weil das geschilderte Szenario beim genaueren Nachdenken gar nicht so völlig ausgeschlossen ist, wie es zu Beginn scheint. Allerdings fiel es mir schwer, einen Bezug zu den Personen aufzubauen, dazu schildert Juli Zeh sie zu schablonenhaft. Bei Britta, der perfekten Geschäftsfrau, Ehefrau und Mutter, nüchtern, berechnend, mit Hygienefimmel und einem völlig übersteigerten Bedürfnis nach Kontrolle und Selbstoptimierung, deutet allenfalls die beständige Übelkeit auf einen Rest von Gewissen hin. Sie hat sich bequem in ihrem Doppelleben eingerichtet, kann aber mit der unerwarteten Bedrohung nicht umgehen. Babak dagegen, der schwule, eher gutmütige Iraner, der den Algorithmus für die Auswahl der Kandidaten der „Brücke“ entwickelt hat, ist der ruhende Pol des Unternehmens, überlegter, entspannter, aber ohne Durchsetzungskraft. Julietta, eine neue Kandidatin der „Brücke“, ist in ihrer absoluten Klischeehaftigkeit die schwächste Figur des Romans.

Ulrike C. Tscharre liest das leider gekürzte Hörbuch auf sechs CDs in knapp sieben Stunden mit genau der passenden kühlen und lakonischen Artikulation. Das Zuhören hätte mir allerdings mit mehr erzählenden Passagen und weniger Dialogen besser gefallen.

Wer Lust hat, sich über die möglichen Folgen von Politikverdrossenheit und Rückzug in Form eines teils sehr spannenden Romans mit Zügen eines Politikthrillers Gedanken zu machen, sollte Juli Zehs Leere Herzen lesen oder hören.

Juli Zeh: Leere Herzen. Gelesen von Ulrike C. Tscharre. Der Hörverlag 2017
www.randomhouse.de

Hisham Matar: Die Rückkehr

Protokoll einer Suche nach dem verschwundenen Vater

Von Hisham Matar, dem in New York und London lebenden Autor libyscher Herkunft, sind mit Im Land der Männer (2007) und  Geschichte eines Verschwindens (2011) bereits zwei Romane erschienen, doch ist Die Rückkehr das erste Buch, das ich von ihm gelesen habe. Immer geht es um seinen Vater, Jaballa Matar, der in den Fängen der libyschen Diktatur von Muammar al-Gaddafi verschollen ist, dieses Mal ganz direkt und in Form einer Biografie, die zugleich Autobiografie des Verfassers ist.

Ausgangspunkt für Die Rückkehr ist die erste Reise Hisham Matars in die Heimat nach 33 Jahren Exil im März 2012, nicht lange nach Gaddafis Tod im Herbst 2011, als Demokratie und Gesetzlichkeit vorübergehend in greifbarer Nähe schienen. Der Aufenthalt diente vor allem dazu, das ungewisse Schicksal seines Vaters zu klären, was letztlich nicht gelang: „Seit einem Vierteljahrhundert schwindet meine Hoffnung kontinuierlich, und so kann ich heute sagen, dass ich so gut wie frei davon bin. Es bleiben nur noch ein paar vereinzelte Fünkchen.“

Jabbala Matar wurde 1939 geboren, als Libyen während der kolonialen Unterdrückung durch Mussolini einen Genozid erlebte. Sein Vater Hamed, Hishams Großvater, kämpfte gegen die seit 1911 bestehende italienische Besatzung, bis er 1919 mit seiner Familie für 20 Jahre nach Alexandria floh. Jabbala Matar liebte Gedichte, wurde mit dem Import von japanischen und westlichen Waren in den Nahen Osten sehr reich und diente nach der Unabhängigkeit Libyens 1951 unter König Idris als Offizier. Mit dem Putsch Gaddafis verband er zunächst Hoffnungen auf eine neue, republikanische Zeit, erkannt jedoch bald die wahre Natur des neuen Machthabers, der die Schulen militarisierte, Bücher, Musik und Filme verbot, Theater und Kinos schließen ließ, Fußball zur ungesetzlichen Tätigkeit erklärte und Gegner massenhaft hinrichten ließ. 1979 floh Jaballa Matar mit seiner Frau und den beiden Söhnen und organisierte von Kairo aus den militärischen Widerstand. 1990 wurde er mit Wissen des ägyptischen Geheimdienstes und Hosni Mubaraks entführt und nach Tripolis ins berüchtigte Gefängnis Abu Salim gebracht. Drei Briefe konnte er heimlich an seine Familie schicken, nach den Massenhinrichtungen 1996 verliert sich seine Spur.

Hisham Matar, besessen von dem Wunsch, das Schicksal seines Vaters aufzuklären, mobilisierte führende Mitglieder des britischen Oberhauses und den Außenminister David Miliband, den Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu, Menschenrechtsgruppen und NGOs und erstaunte mit diesem „Lärm“ selbst den Gaddafi-Sohn Said al-Islam, doch kamen lediglich vier andere Familienmitglieder nach 21 Jahren Haft frei.

Die Rückkehr wurde 2017 mit dem Pulitzer-Preis für Biografie oder Autobiografie und mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Mir haben Hisham Matars bewegendes Zeugnis der Liebe zu seinem Vater und seiner Heimat gut gefallen, genauso wie das gezeigte Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach Wahrheit und der Angst davor, alles in klarem Stil verfasst und ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Allerdings hätte ich mir neben den sehr persönlichen Aspekten mehr Information zur Geschichte des Landes gewünscht. Aber vielleicht schreibt Hisham Matar darüber ja noch ein weiteres Sachbuch, ich würde es auf jeden Fall gerne lesen.

Hisham Matar: Die Rückkehr. Luchterhand 2017
www.randomhouse.de

Antonia Michaelis & Cornelia Haas: Detektivgeschichten

Spannend und manchmal ein bisschen gruselig

Die Detektivgeschichten von Antonia Michaelis stammen aus der Zeit, als die Erstlesereihe des Loewe Verlags noch vier Stufen umfasste. Die Lesepiraten, zu denen dieser Band gehört, waren die dritte Lesestufe und richtete sich an fortgeschrittene Leserinnen und Leser ab ca. sieben Jahren.

Die sieben unabhängig zu lesenden Geschichten passen für Jungs und Mädchen gleichermaßen, sind spannend und manchmal ein bisschen gruselig. Sie umfassen jeweils sechs bis sieben Seiten, die jeweils etwa zur Hälfte aus Text und Bild bestehen, wobei die Illustrationen von Cornelia Haas das Textverständnis gut unterstützen. Nur in der letzten Geschichte gibt es eine ganze Seite Text als Vorübung zur nächsten Lesestufe, als Lohn winkt eine ganzseitige Illustration. Die große Fibelschrift, die kurzen Zeilen im Flattersatz, die einfache Wortwahl und die sehr knappen Sätze sind gut auf das Lesevermögen von Zweitklässlern und Zweitklässlerinnen abgestimmt. Die Lösungen der kleinen Rätsel am Ende jeder Geschichte können in ein Kreuzworträtsel hinten im Buch eingetragen werden, das wiederum zum Lösungswort der „Leserallye“ führt.

In den kniffligen Fällen der Kinderdetektive geht es um Max, der beunruhigende Telefonanrufe erhält, Lena und Lina, die an einem Detektiv-Wettbewerb teilnehmen, Paul bei der Enttarnung eines geheimnisvollen Schokoladendiebs, Britta und Karl auf der Suche nach einem Ziegenentführer, die Spurenleserin Anni bei der Ermittlung eines tierischen Keksdiebs, Steffen, Jochen und die falsche Leiche und Toni, der das Geheimnis seines Vaters lüftet.

Besonders gut gefallen dürfte buchstabenbegeisterten Kindern Lenas Geheimschrift, die zur Nachahmung anregt.

Antonia Michaelis & Cornelia Haas: Detektivgeschichten. Loewe 2011
www.loewe-verlag.de

Kent Haruf: Lied der Weite

Weite der Prärie – Weite der Herzen

Lied der Weite, im Original 1999 erschienen unter dem Titel Plainsong, ist der dritte von sechs Romanen des US-Amerikaners Kent Haruf (1943 – 2014). Da ich 2017 seinen letzten, Unsere Seelen bei Nacht, gelesen und sehr geliebt habe, waren meine Erwartungen hoch – und wurden erfüllt. Noch mehr als die Handlung haben mich die Charaktere und die Atmosphäre bezaubert. Die unaufgeregte Erzählweise, das genaue Beobachten, das bedächtige Erzähltempo und die atmosphärische Schilderung des Lebens in der fiktiven Kleinstadt Holt, Colorado, in der alle Romane Harufs angesiedelt sind, machen auch dieses Buch für mich zu einem literarischen Kleinod.

Zwei Schicksale stehen im Mittelpunkt: Da sind einmal die Brüder Bobby und Ike Guthrie, neun und zehn Jahre alt, deren an Depression erkrankte Mutter die Familie verlässt und zu ihrer Schwester nach Denver zieht. Bobby und Ike sind mit ihrer Trauer und Sehnsucht weitgehend auf sich allein gestellt, da ihr Vater Tom mit eigenen Problemen zu kämpfen hat. Auch die 17-jährige Schülerin Victoria Roubideaux ist ganz allein: Wegen ihrer Schwangerschaft hat ihre Mutter sie vor die Tür gesetzt, sie steht vor dem Nichts.

Es sind jedoch nicht diese drei Protagonisten, die den Roman so besonders machen, es sind die Nebencharaktere, die soviel Hoffnung und Zugewandtheit ausstrahlen an diesem ansonsten tristen Ort. Einer von ihnen ist die kluge, engagierte und verständnisvolle Lehrerin Maggie Jones, die sich Toms annimmt. Sie ist es auch, die Victoria ohne zu zögern vorübergehend bei sich aufnimmt und die ebenso unglaubliche wie geniale Idee hat, sie bei den McPheron-Brüdern auf deren Rinderfarm 17 Meilen außerhalb von Holt unterzubringen. Diese beiden alten Farmer, schroffe, ungehobelte, raubeinige alte Männer, die ein halbes Jahrhundert dort alleine gehaust haben, nicht wissen, wie man redet, aber zutiefst gutherzig und rührend sind, waren meine absoluten Lieblingsfiguren. Aber auch der alte Arzt Dr. Martin, der Victoria respektvoll, einfühlsam und herzlich betreut, und die kranke, etwas verwahrloste alte Mrs. Stearns, die sich so liebevoll der beiden mutterlosen Buben Bobby und Ike annimmt, zeigen, was wahre Güte ist. Sie haben mich immer wieder vergessen lassen, wie trostlos und karg das Prairiestädtchen Holt eigentlich ist, wie unsympathisch manche seiner Bewohner und welch schwere Last viele mit sich herumschleppen.

Lied der Weite habe ich zunächst nur auf die Weite der Prärielandschaft bezogen, doch nach der beglückenden Lektüre denke ich mehr an die Weite der Herzen einiger seiner Bewohner. Ihre Menschlichkeit schenkt Hoffnung, nicht nur Bobby, Ike und Victoria, sondern auch mir als Leserin. Deshalb wünsche ich diesem kleinen, unspektakulären Roman im deutschsprachigen Raum genauso viel Beachtung wie bei seinem Erscheinen 1999 in den USA, als er auf der Shortlist des National Book Award for Fiction stand und ein Bestseller wurde.

Kent Haruf: Lied der Weite. Diogenes 2018
www.diogenes.ch

Bernhard Schlink: Olga

Mit Bismarck beginnt und endet es

Viel Stoff hat Bernhard Schlink in diesen Roman gepackt: einen Parforceritt durch die deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis 1971, Reisen in ferne Länder, eine unvollendete Liebesgeschichte und die Lebensgeschichte einer beeindruckenden Frau.

Olga ist von Beginn an anders. Sie steht still und schaut lieber zu, sie lernt begierig und begreift früh Bildung als ihre einzige Chance aus der Armut und weg von der ungeliebten Großmutter, sie träumt von einem Klavier, einem Füllfederhalter von Soennecken und neuen Kleidern. Der Eintritt ins Lehrerinnenseminar in Posen und die erste Stelle als Lehrerin sind die Belohnung für ihre Zielstrebigkeit, ihre Dickköpfigkeit und ihren Fleiß.

Ganz anders Herbert. Als Sohn des örtlichen Guts- und Fabrikbesitzers fehlt es ihm nicht an materiellen Gütern. Seine Passion sind das Rennen, das Schießen, das Reiten und Rudern und nur mit Mühe schafft er sein Abitur und den Eintritt ins Garderegiment. Doch seine Träume sind andere, er will mehr als „Gut, Dorf, Königsberg, Berlin oder die Garde“. Er möchte Deutschland groß machen, fantasiert von der Stärke und Schönheit reiner Rassen, alles Dinge, die für Olga hohl klingen. Und doch sind die beiden Außenseiter befreundet seit Kindertagen, werden sogar trotz aller Widerstände ein heimliches Paar. Olga akzeptiert ein Leben im Wartestand, während Herbert am Krieg gegen die Herero in Deutsch-Südwestafrika teilnimmt, durch die Welt reist und ihr ein Leben im Wartestand zumutet, nicht unähnlich dem der heimlichen Geliebten eines verheirateten Mannes. Seine Suche nach Weite ist ihr fremd, sie steht den Ideen der Sozialdemokraten nahe und lehnt die seit Bismarck grassierenden großen Gedanken der Deutschen ab. Herberts schlecht vorbereitete Arktisexedition kann sie nicht verhindern. Er wird nie zurückkehren.

Bernhard Schlink gliedert seinen Roman in drei völlig unterschiedliche Teile. Der erste erzählt Olgas Leben bis zu ihrer Vertreibung aus Schlesien 1945 und wird in kurzen Kapiteln mit oft großen Zeitsprüngen schlaglichtartig, sehr spannend, aber auch sehr sachlich und distanziert erzählt. Warum dies so ist, erklärt erst der letzte Abschnitt dieses Teils, der die Erzählperspektive offenlegt – ein sehr überraschender Kunstgriff des Autors, der mir gut gefallen hat. Hier hat meine Bewunderung für Olga die Zuneigung zu ihr überwogen.

Im zweiten und in meinen Augen nicht so starken Teil des Romans wird das Leben Olgas ab den Fünfzigerjahren im Westen erzählt, als sie ertaubt als Näherin in einer Pfarrersfamilie arbeitete und dem jüngsten Sohn zur großmütterlichen Vertrauten voller Liebe, Verständnis und Nachsicht wurde. Dieser Ferdinand ist der Gegenpol zu Olga und Herbert und führt ein Leben in Beständigkeit, das außer einem Wechsel des Studienfachs keine Brüche kennt. Bis zu ihrem Tod infolge eines Anschlags Unbekannter auf das Bismarckdenkmal bleibt er an ihrer Seite. In seiner Zuneigung zu ihr konnte ich eine tiefere Beziehung zu Olga aufbauen als im ersten Teil.

Ferdinand haben wir es zu verdanken, dass wir im dritten, unglaublich berührenden Teil Briefe Olgas an den verschollenen Herbert zu lesen bekommen, in denen wir endlich ihre Stimme hören, eine überraschend andere Olga erleben und Unvermutetes erfahren.

Ich halte Bernhard Schlinks Roman Olga für einen absolut lesenswerten Roman über eine starke Frau und ein interessantes Zeitdokument.

Bernhard Schlink: Olga. Diogenes 2018
www.diogenes.ch