Eoin Colfer: Tim und das Geheimnis von Knolle Murphy

Wer hätte das gedacht?

Als der Vater wieder einmal nach Hause kommt und drei eigene und vier fremde Kinder in Kriegsbemalung an den Vorhängen hängen, ist das Maß voll. Die Eltern beschließen, dass in diesem Haushalt mit fünf Söhnen unter elf Jahren etwas passieren muss und sie verordnen den beiden ältesten, Tim und Marty, eine „bildende Beschäftigung außer Haus für die Ferien“. Im Klartext bedeutet das regelmäßige Nachmittage in der Stadtbibliothek unter den Augen der berüchtigten Bibliothekarin Miss Murphy, „Knolle Murphy“ genannt, einem gefürchteten Kinderschreck, gruselig abgebildet auf dem Cover als schwarzer Schatten. Alle Gegenwehr nützt nichts, und so treten die beiden Brüder wohl oder übel diese vermeintliche Höchststrafe an.

Tim erzählt mit viel Galgenhumor von ihren täglichen Besuchen in Knolle Murphys Reich, von Kinderängsten, unerbittlichen Regeln, verlorenen Scharmützeln, fliegenden Stempeln und langweiligen Stunden auf dem Teppich vor dem Kinderbuchregal. Doch es kommt, wie es kommen muss, und die Jungs machen die verblüffende Entdeckung, dass Bücher vielleicht gar nicht so schlimm sind, wie sie vermutet haben…

Als Bibliothekarin habe ich herzlich über die skurrile Karikatur meiner „Kollegin“ und deren (gewitzte) Regeln gelacht und habe mich natürlich über die Wandlung der Kinder gefreut. Tim und das Geheimnis von Knolle Murphy ist ein herrlich humorvolles, leicht schräges Kinderbuch für Jungs und Mädchen ab ca. acht Jahren, zum Vorlesen auch schon etwas früher. Aber nicht nur für sie, auch für Erwachsene ist dieser Beitrag zum Thema „Lesen“ des Lehrers und Autors Eoin Colfer eine Freude.

Der Verlag Beltz & Gelberg bietet zu diesem Buch Lehrerhandreichungen mit Unterrichtsmaterial für die dritte und vierte Klassenstufe an.

Eoin Colfer: Tim und das Geheimnis von Knolle Murphy. Beltz & Gelberg 2005
www.beltz.de

Anna Stothard: Museum der Erinnerung

„Unsere Vergangenheit lauert immer irgendwo“

Anna Stothards Roman Museum der Erinnerung erinnert an einen zunächst leeren Zeitstrahl, der sich im Laufe der 300 zu lesenden Seiten nach und nach mit einzelnen Daten und Ereignissen füllt, über die ich hier allerdings aus Gründen der Spannung so wenig wie möglich verraten möchte.

Die knapp 30-jährige Dr. Cathy Miller aus Essex arbeitet seit vier Jahren als Insektenforscherin im Berliner Museum für Naturkunde. Neben ihren Präparaten hütet sie einen weiteren Schatz: ihr persönliches Museum der Erinnerung, ein verschlossenes Schränkchen mit über 200 kleinen Erinnerungsstücken vom Mäuseschädel über Federn, Muscheln, einen ausgeschlagenen Backenzahn, Spielzeugsoldaten und anderes mehr. Viele Objekte sind schmerzhafte, negative Andenken, die sie auch mit ihrem Verlobten, dem amerikanischen Paläontologen Tom, nicht teilt. Überhaupt weiß dieser überaus verständnisvolle Partner, der selbst in Los Angeles auf der Sonnenseite des Lebens behütet aufgewachsen ist, nichts über Lee-Over-Sands in Essex, wo es nach Abwasser riecht und die Häuser Bruchbuden sind, nichts über den Sommer, als Cathy zehn war, nichts über ihre Schuldgefühle, nichts über Daniel, vor dem sie mit 22 Jahren geflohen ist und der ihr immer noch kleine Päckchen schickt, egal wohin sie geht. Cathy möchte die Vergangenheit und die Gegenwart nicht mischen und meint, sie könne ihre Unglücksandenken wegsperren und ihre Narben überdecken.

Doch bei der 200-Jahr-Feier des Museums, bei der sie einen Preis für ihre herausragende Forschung zur Methamorphose von Schwärmern erhalten soll, kommt es zum finalen Showdown und Cathy muss sich endgültig entscheiden: zurück ins alte Leben oder endgültig die Vergangenheit hinter sich lassen?

Es hat mir großen Spaß gemacht, meinen Zeitstrahl nach und nach zu ergänzen, bis Cathys Vergangenheit als Ganzes vor mir lag. Die Geschichte ist kunstvoll, logisch und spannend aufgebaut und sowohl Cathys als auch Daniels Charakter sind ausgezeichnet herausgearbeitet. Weniger gut kam ich mit Cathys großer Liebe, dem kettenrauchenden Tom klar, der mir einfach zu lieb, zu glatt und zu verständnisvoll war und in meinen Augen fast schon naive Züge trägt. Schade, denn so blieb mir die Beziehung zwischen ihnen leider etwas fremd. Sehr gut gefallen hat mir dagegen, dass das Berliner Naturkundemuseum weit mehr als nur Kulisse für das Geschehen ist und man viel Interessantes über die Sammlung und die Arbeit dort erfährt.

Museum der Erinnerung ist ein Roman ohne Pathos und Kitsch, der die Fragen nach Schuld und Sühne, wahrer und unechter Liebe, Loyalität und den Umgang mit der eigenen Vergangenheit stellt. Anna Stothard erzählt die Geschichte in einer angenehm zu lesenden Sprache mit aussagekräftigen Bildern und Metaphern und der Diogenes Verlag hat daraus eine sehr gut in der Hand liegende Klappenbroschur gemacht.

Anna Stothard: Museum der Erinnerung. Diogenes 2017
www.diogenes.de

Katharina Peters: Deichmord

Romy Beccare gibt keine Ruhe

Eine anonyme Terrorwarnung per Mail hält die Kommissariate in Bergen und Stralsund vorübergehend in Atem, doch finden Romy Beccare und ihr Team in Bergen genauso wie die Ermittlergruppe um ihren Lebenspartner Jan Riechter, leitender Kommissar in Stralsund, keinen Anhaltspunkt für einen geplanten Terroranschlag durch einen Ralswieker Hotelier. Aber ganz mag Romy, beharrlich wie sie nun einmal ist, die Nachforschungen nicht einstellen, und stößt unvermutet auf zwei ungeklärte Vermisstenfälle aus den Jahren 1990 und 1993. Beide verschwundene Studentinnen waren zuletzt im Gästehaus Magold in Ralswiek abgestiegen, das inzwischen der  wegen einer Schussverletzung aus dem Dienst ausgeschiedenen  Ex-Polizist Rolf Magold führt. Auch die 1999 ermordete 21-jährige Karin Maier hat dort zuletzt als Zimmermädchen gearbeitet, allerdings wurde für diese Tat ein einschlägig bekannter Sexualstraftäter verurteilt. Als dann auch noch im Zusammenhang mit einem aktuellen weiblichen Leichenfund auf einer stillgelegten Deponie der Name Magold fällt, leuchten nicht nur bei Romy alle Alarmglocken…

Die komplizierten Ermittlungen in den verschiedenen Fällen auf nur gut 300 Seiten fordern nicht nur die Polizei, auch als Leserin oder Leser ist Konzentration gefragt. Romy Beccare, die Frau mit den „Hummeln im Hintern“, die so gerne ihrem Bauchgefühl folgt und der Schreibtischarbeit zuwider ist, führt unzählige Befragungen durch und versucht, Licht in das Dunkel um die vier Frauen und die undurchsichtige, reichlich schräge Familie Magold zu bringen: „Alte Lügen, neue Halbwahrheiten, gestörte Persönlichkeiten, Geheimnisse, seltsame Verwicklungen, die Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen ließen, Unausgesprochenes, anonyme Hinweise, Familienkonflikte, Schweigegelübde – ein Alptraum für Ermittler.“ (S. 201)

An Spuren und Verdächtigen mangelt es nicht, sogar die interne Ermittlung der Polizei muss eingeschaltet werden und die Nachforschungen reichen bis nach Norwegen und zu dunklen Finanzgeschäften im Zuge der Abwicklung von alten DDR-Betrieben zurück. Doch Stück für Stück kommt die Wahrheit ans Licht dank zweier vertrauensvoll zusammenarbeitender Teams, in denen sich jeder auf jeden verlassen kann.

Auch dieser sechste, problemlos unabhängig zu lesende Krimi aus Rügen hat meine Erwartungen wieder erfüllt, auch wenn ich den Einstieg mit der falschen Terrorwarnung eine Spur zu konstruiert fand. Aber dann war schnell alles wieder da, was ich an dieser Reihe so schätze: sympathische, harmonisch kooperierende Ermittlerteams, solide Polizeiarbeit, durchgängige Spannung und Unterhaltung, eine logische Auflösung und genau die richtigen Prisen Privatleben und Lokalkolorit.

Ich bin bestimmt auch bei Band sieben in Rügen wieder dabei!

Katharina Peters: Deichmord. Aufbau 2017
www.aufbau-verlag.de

Kirsten Boie: Bestimmt wird alles gut

Ein Bilderbuch zum Thema Flucht

„In den nächsten Jahren wird fast jedes deutsche Kind auch Flüchtlingskinder kennenlernen: in der Kita, in der Schule, im Sportverein. Dann sollte es zumindest ansatzweise wissen, was alles hinter diesen Kindern liegt. Darum habe ich mir von Rahaf und Hassan ihre Geschichte erzählen lassen und sie aufgeschrieben“. (Kirsten Boie)

Am 3. Mai 2017 hatte ich das große Glück, in Ludwigsburg eine Lesung von Kirsten Boie und ein Interview mit ihr zu erleben. Als Publikum waren nicht Kinder, sondern Eltern, Fachkräfte aus Kitas und Grundschulen, Studenten usw. geladen.

Vorgelesen hat Kirsten Boie ihr Bilderbuch Bestimmt wird alles gut über das wahre Schicksal einer syrischen Flüchtlingsfamilie, erzählt aus dem Blickwinkel der Kinder. Rahaf, zehn Jahre, und Hassan, neun Jahre, haben früher in Homs gelebt in einem großen Haus mit Großeltern, Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen. Wegen der Flugzeuge und Bomben sind sie mit ihren Eltern und den beiden kleinen Schwestern über Ägypten mit Hilfe von Schleusern nach Italien und weiter nach Deutschland geflohen. Nach einer Übergangsphase im Erstaufnahmelager leben sie nun in der Flüchtlingsunterkunft einer deutschen Kleinstadt, besuchen die Schule, lernen Deutsch und haben erste Freundschaften geschlossen.

Kirsten Boie hat dieses Buch auf Anregung der Plattform onilo.de, einem auf Schulen und öffentliche Bildungseinrichtungen spezialisierten Onlineportal, kurz vor dem Beginn der großen Flüchtlingsbewegung geschrieben, und der Klett Kinderbuch Verlag hat es trotz der damals geringen Verkaufsaussichten dankenswerterweise veröffentlicht. Der Text ist auf Deutsch und Arabisch abgedruckt, übersetzt von Mahmoud Hassanein, mit eindrücklichen Bildern von Jan Birck versehen und durch ein kleines Deutsch-Arabisch-Glossar ergänzt.

Ich hätte meinen Kindern das Buch, das vom Verlag ab sechs Jahren empfohlen wird, in diesem Alter wahrscheinlich nicht anlasslos vorgelesen. Wenn Kinder aber fragen, weil sie Begriffe aufschnappen, oder wenn sie in der Schule, beim Sport oder in der Nachbarschaft mit Flüchtlingskindern zusammentreffen, dann ist dieses Buch genau der richtige Einstieg in das Thema. Es ist sehr klar, ruhig, gut verständlich und zuversichtlich erzählt und fühlt sich – wie übrigens alle Bücher von Kirsten Boie – wunderbar in die Gefühls- und Gedankenwelt von Kindern ein, betroffenen wie zuhörenden.

Für Flüchtlingskinder, das hat Kirsten Boie am Rande erzählt, kann das Buch darüber hinaus ein Einstieg in das Erzählen eigener Erlebnisse nach vielleicht langer Sprachlosigkeit sein.

Kirsten Boie: Bestimmt wird alles gut. Klett Kinderbuch 2016
www.klett-kinderbuch.de

Tilde Michels: Gustav Bär erzählt Geschichten

Ein Kinderbuchklassiker mit dem Potential zum Lieblings-Vorlesebuch

Von Tilde Michels (1920 – 2012) kennt man vor allem Kleiner König Kalle Wirsch und Es klopft bei Wanja in der Nacht. Außerdem schätze ich sie als Übersetzerin oder vielmehr Nacherzählerin von Arnold Lobels genialem Kinderbuchklassiker Das große Buch von Frosch und Kröte. Doch auch ihre inzwischen ebenfalls zum Kinderbuchklassiker gewordenen Geschichten um Gustav Bär und die drei Wanderbären Cilli, Bim und Mocke sind ein wunderbares erstes Vorlesebuch für Kinder ab vier Jahren. Im vorliegenden Sammelband Gustav Bär erzählt Geschichten hat der Arena Verlag die drei Bände Gustav Bär erzählt Gute-Nacht-Geschichten, Als Gustav Bär klein war und Abenteuer mit Gustav Bär zusammengefasst.

Die etwa 40 Geschichten mit kindgerechtem Vokabular und kurzen Sätzen umfassen jeweils zwei bis drei Seiten, sind in sich abgeschlossen und hängen doch zusammen. Alltägliche Situationen aus der Erlebniswelt der Kinder mit einem hohen Wiedererkennungswert werden erzählt und immer geht es um Gefühle. Im Mittelpunkt stehen Eifersucht, Scham, Streit, Hänselei, Versöhnung, Teilen, Mut, Unternehmenslust uvm. Die Illustrationen von Helga Spieß passen zum Charme des Textes und nehmen den zentralen Inhalt jeder Geschichte zielgruppengerecht auf.

Gustav Bär erzählt Geschichten ist ein sehr empfehlenswerter Kinderbuchklassiker mit dem Potential zum Lieblings-Vorlesebuch für Zuhörer und Vorleser.

Tilde Michels: Gustav Bär erzählt Geschichten. Arena 2013
www.arena-verlag.de

Maja Lunde: Die Geschichte der Bienen

Hoffnung?!

Die Geschichte der Bienen der norwegischen Autorin Maja Lunde fällt zunächst durch ein bestechendes Äußeres auf. Sowohl der zurückhaltend gestaltete Umschlag mit der plastisch hervorgehobenen toten Biene, als auch der warmgelbe Einband und das ebensolche Vorsatzblatt machen den Roman zu einem optischen Genuss und zu einem Hingucker auf jedem Büchertisch oder im Schaufenster einer Buchhandlung.

Erzählt wird abwechselnd von drei Stimmen an drei verschiedenen Orten zu drei unterschiedlichen Zeiten. Damit man nicht die Orientierung verliert, ist als Fußnote auf jeder Seite die Person genannt, die gerade das Wort hat – eine tolle Idee des Verlags! Allerdings sind die Stimmen so unterschiedlich, dass die Unterscheidung auch sonst nicht besonders schwergefallen wäre:

William, der Naturforscher und Samenhändler aus Maryland, Hertfordshire, England, berichtet 1852 in blumiger, altertümlicher Ausdrucksweise über sein Leben als Vater von acht hungrigen Mäulern, die ihn die vielversprechende wissenschaftliche Karriere gekostet haben. Als er sich doch noch einmal aufrafft und mit „Savanges Standardbeute“ eine völlig neue Art von Bienenbehausung als Patent anmelden will, ist ihm ein anderer Erfinder bereits kurz zuvorgekommen.

In einer eher einfachen, derben Sprache erzählt George von seinem Leben als Imker in Automn Hill, Ohio, USA, 2007. Er führt die Familientradition fort und hofft darauf, seinem Sohn eines Tages ein gesundes Unternehmen vererben zu können, auch wenn der lieber Journalist werden will. Die Bienen sind für George Beruf und Berufung, doch machtlos muss er zusehen, wie das mysteriöse Bienenverschwinden, „Colony Collapse Disorder“ genannt, auch bei ihm Einzug hält.

Die dritte Erzählstimme, die sehr sachlich und präzise daherkommt, aber ebenso melancholisch wie die beiden anderen ist, gehört Tao, einer Handbestäuberin in Shirong, Sichuan, China, im Jahr 2098. Sie kennt Bienen, die seit den 1980er-Jahren in ihrer Region, seit 2045 auf der ganzen Welt verschwunden sind, nur noch aus Büchern. Nun muss sie nicht nur gegen Mangelernährung und einen tristen Alltag kämpfen, sondern auch nach ihrem dreijährigen Sohn Wei-Wen suchen, der ganz plötzlich erkrankt ist und vom herrschenden „Komitee“ weggebracht wurde.

Da ich passenderweise während der Lektüre immer meinen blühenden Apfelbaum im Blick hatte, um den wegen des viel zu kalten Wetters leider keine Bienen summten, konnte ich die Hilflosigkeit der Protagonisten recht gut nachvollziehen. Doch außer um das Thema Bienen geht es in allen drei Geschichten auch um die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und die Konflikte um Erwartungen und Rebellion. Mir hätte es besser gefallen, wenn Maja Lunde stattdessen noch tiefer in die Problematik des Bienensterbens eingedrungen wäre, auch wenn dies natürlich kein Sachbuch, sondern ein Roman ist. Sehr gut gefallen hat mir dagegen, wie die drei scheinbar unzusammenhängenden Geschichten am Ende doch noch Verbindungen aufweisen und dass der insgesamt düstere Roman mit dem Wort „Hoffnung“ endet. Diese hege ich trotz allem auch für meine Apfelernte.

Maja Lunde: Die Geschichte der Bienen. btb 2017
www.randomhouse.de

Jamie Ford: Keiko

Eine ganz besondere Liebesgeschichte

Wenn man ein Lieblingsbuch erneut liest, besteht immer die Gefahr einer Enttäuschung. Bei Keiko, dem Debütroman des US-Amerikaners Jamie Ford aus dem Jahr 2009, ist es mir zum Glück nicht so ergangen, und ich war genauso berührt und gefangen wie beim ersten Lesen vor einigen Jahren.

Aus der Sicht eines auktorialen Erzählers erfahren wir die Lebens- und Liebesgeschichte des Amerikaners chinesischer Herkunft Henry Lee, der 1986 vor Kurzem nach glücklicher Ehe seine Frau Ethel verloren hat. Bei einem Spaziergang durch Seattle beobachtet er, wie das an der Grenze zwischen chinesischem und japanischem Viertel gelegene und seit Kriegsende aufgegebene Hotel Panama zu neuem Leben erwacht. Seine Gedanken wandern zurück ins Jahr 1942, als er mit zwölf Jahren zum ersten Mal dort war.

Zu dieser Zeit war Henry der einzige asiatische Stipendiat einer weißen Eliteschule, ein gemobbter Außenseiter. Mit seinen Eltern konnte er nicht darüber reden, zu stolz waren sie darauf, dass ihr Sohn ein echter Amerikaner geworden war, und er war abgrundtief einsam. Das änderte sich, als mit der Japanerin Keiko eine zweite Asiatin an die Schule kam. Die beiden Jugendlichen wurden unzertrennlich, erlebten ihre erste Liebe und streiften zusammen durch die Jazz-Szene Seattles, immer darauf bedacht, die Verbindung vor Henrys Vater, der die Japaner hasste, geheim zu halten. Doch nach dem Angriff auf Pearl Harbor, als die Amerikaner alle Japaner internierten, wurden auch Keiko und ihre Familie in ein Lager gebracht, und so sehr Henry sich auch bemühte, verlor er sie doch aus den Augen.

Mir ist dieser Roman, der so sensibel und still eine wunderschöne lebenslange Liebesgeschichte und zwei schwierige Vater-Sohn-Beziehungen (zwischen Henry und seinem Vater bzw. Henry und seinem Sohn) erzählt, sehr ans Herz gegangen. Ist er ein wenig kitschig? Wenn ja, so hat es mich in keinem Moment gestört. Vielmehr habe ich Keiko, im Original Hotel on the Corner of Bitter and Sweet, als Zeugnis über ein Leben zwischen verschiedenen Kulturen und über Ausgrenzung gelesen, als zeitgeschichtlichen Bericht aus dem Zweiten Weltkrieg in den USA und als Suche eines überaus sympathischen Protagonisten nach seiner Identität.

Jamie Ford: Keiko. Berliner Taschenbuch Verlag 2010
www.piper.de

Marc Elsberg: Blackout

Der Katastrophenfall 

Normalerweise will ich mit der Vergabe von „nur“ drei Sternen eher von einem Buch abraten, im vorliegenden Fall ist das etwas anders. Das Thema eines Ausfalls der europäischen, später auch außereuropäischen Stromnetze ist dermaßen fesselnd und beängstigend, dass sich eigentlich jeder einmal damit befasst haben sollte. Trotzdem konnte mich die Umsetzung des Themas nur bedingt überzeugen.

Als an einem Wintertag innerhalb einer Dreiviertelstunde fast das gesamte europäische Stromnetz zusammenbricht, glauben die Verantwortlichen mehrheitlich zunächst an eine Wiederherstellung der Versorgung innerhalb weniger Stunden. Doch die Trennung von Stromerzeugern und Netzbetreibern, die durch die Energiewende bedingte Zunahme sensibler Schnittstellen und die Vernetzung über Ländergrenzen hinweg machen die Ursachenforschung und die Behebung der Panne kompliziert. Oder handelt es sich vielleicht sogar um eine gezielte Attacke von Terroristen, Anarchisten oder eines ganzen Staates? Während das Überleben der Bevölkerung ohne Licht, Heizung, Klospülung, Trink- und Duschwasser, Benzin, Bargeld, Lebens- und Kommunikationsmittel immer dramatischer wird und nach und nach die Notstromaggregate der Krankenhäuser und AKWs ausfallen, in Spanien das Militär putscht und das Chaos auf den Straßen droht, suchen die Verantwortlichen in Brüssel, Den Haag, Berlin und in allen betroffenen Staaten fieberhaft nach der Ursache der Katastrophe und Möglichkeiten, das Überleben der Bevölkerung zu sichern. Der IT-Spezialist, Hacker und ehemalige Anti-G8-Protestierer Piero Manzano aus Mailand ist nach einer Entdeckung an seinem intelligenten Stromzähler dem Rätsel auf der Spur, doch als er sich endlich Gehör bei den Behörden verschafft, gerät er zunächst selber unter Verdacht…

Während mich das Szenario eines Angriffs auf unsere Stromnetze begeistert hat, ich viel gelernt und so manchen Denkanstoß erhalten habe, hat mich der in meinen Augen völlig überflüssige Einsatz von „Katalysatoren“ wie den ständigen Ortswechseln und die unglaubliche Odyssee Manzanos gestört. Die Geschichte über die Verwundbarkeit unserer modernen Zivilisation ist von sich aus so dramatisch, dass es dieser „gewöhnlichen“ Thrillereffekte überhaupt nicht bedurft hätte. Im Gegenteil haben sie dem für mich gut und  glaubhaften dargestellten Geschehen sogar an Authentizität genommen. 250 der 800 Seiten weniger, weniger unnötige Dramaturgie, ein Verzicht auf die Liebesgeschichte am Rande und keine Sätze wie „Manzano versank im Schmerz, fühlte, wie er kraftlos vom Stuhl glitt, in Shannons Hände“ und Blackout wäre für mich ein Fünf-Sterne-Thriller. Doch auch so bin ich froh, dieses Buch, das mit Sicherheit in Erinnerung bleiben wird, gelesen zu haben.

Marc Elsberg: Blackout. Blanvalet 2013
www.randomhouse.de

Camilla Grebe: Wenn das Eis bricht

Etwas stimmt nicht – aber was?

Bisher kannte ich bereits die vier hervorragenden Krimis um die Stockholmer Psychotherapeutin Siri Bergman, die Camilla Grebe, Betriebswirtin, zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Åsa Träff, Psychologin mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie, geschrieben hat. Ich war deshalb sehr gespannt, ob Camilla Grebe alleine genauso gut schreibt wie im Team, und vor allem, ob das psychologische Element genauso stark sein würde. Beide Fragen kann ich nach der Lektüre mit einem eindeutigen Ja beantworten.

Der Thriller Wenn das Eis bricht beginnt mit einem scheußlichen Fund: In der Villa des ebenso erfolgreichen wie wegen seiner Methoden, seiner Frauengeschichten und seiner politisch unkorrekten Äußerungen umstrittenen 45-jährigen Managers einer erfolgreichen Modekette, Jesper Orre, liegt eine enthauptete Frau, Orre selbst ist verschwunden. Die Auffindesituation gleicht frappierend einem nie aufgeklärten Mord an einem jungen Mann zehn Jahre zuvor ebenfalls in Stockholm. Können zwei verschiedene Täter dermaßen ähnliche Verbrechen begehen? Wer ist die Tote und wo ist Jesper Orre?

Erzählt wird abwechselnd aus drei Perspektiven. Peter Lindgren, 49 Jahre, latent depressiv, mit stark angeknackstem Selbstbewusstsein und pathologischer Bindungsangst, ermittelt heute wie damals bei der Stockholmer Kriminalpolizei. Hanne Lagerlind-Schön, 59 Jahre, Verhaltensforscherin und gelegentlich von der Polizei mit der Erstellung psychologischer Täterprofile beauftragt, war ebenfalls bereits in den alten Fall involviert. Gegen Peters Willen wird sie erneut hinzugezogen. Die Beiden hat einst eine ernsthafte Liebesbeziehung verbunden, die an Peters Bindungsangst gescheitert ist. Nun leidet Hanne an beginnender Demenz und steht vor der Frage, wie sie die Zeit vor dem Vergessen sinnvoll verbringen will. Die dritte Ich-Erzählerin, die häppchenweise über die zwei Monate vor der Tat berichtet, ist die junge Verkäuferin Emma Bohman, angestellt bei der gleichen Modekette wie Jesper Orre, durch die heimliche Verlobung mit ihm aufgestiegen vom Aschenputtel zur Prinzessin – bis er sich plötzlich nicht mehr meldet.

Anders als der Leser oder die Leserin, für die sich schnell ein Bild ergibt, tappt die Polizei lange im Dunkeln. Doch irgendetwas passt nicht so recht zusammen – aber was?

Ein über 600 Seiten durchgehend spannender, einfach zu lesender Psychothriller, stimmig erzählt und genial aufgelöst, eben ein echtes Produkt „made in Sweden“.

Camilla Grebe: Wenn das Eis bricht. btb 2017
www.randomhouse.de

Wolfheinrich von der Mülbe: Die Zauberlaterne

Ritter Kuniberts Suche nach dem Glück

Die Ausgabe der Edition Büchergilde von Wolfheinrich von der Mülbes (1879 – 1965) Klassiker Die Zauberlaterne besticht zunächst durch die hochwertige Aufmachung und die stimmungsvollen, fantasievollen Illustrationen von Rotraut Susanne Berger. Mit knapp 500 Seiten stellt sie außerdem eine Herausforderung für junge Leser ab 9 Jahren dar, die aber für ihr Durchhaltevermögen mit einer allzeit spannenden, abenteuerlichen, manchmal mystisch-schaurigen Rittergeschichte mit Augenzwinkern belohnt werden.

Frau Schute, Ritter Kuniberts Mutter, ist unzufrieden mit ihrem Sohn, den sie für ein Weichei hält: „Das kommt alles davon, dass du ein Nichtstuer bist. Andere junge Ritter ziehen aus, besiegen Zwerge, töten Drachen und heiraten wohlhabende Feen. Deswegen können sie auch ihre Burgen anständig halten, und ihre Mütter bekommen nicht das Zipperlein. Du sitzt immer zu Haus und guckst in den Mond. Du bist ein Waschlappen.“ Und so bleibt Kunibert nichts anderes übrig, als mit seinem Diener in die Welt zu ziehen, eine Prinzessin zu suchen und zu gewinnen, Abenteuer mit Drachen und Feen zu bestehen, das magische Rasierzeug des alten Königs aufzutreiben und vieles mehr.

Der Klassiker aus dem Jahr 1937 ist eine Mischung aus Ritterroman, Märchen, Abenteuer-, Schauer- und Fantasygeschichte, wobei Ironie und Sprachwitz ihre eine besondere Note geben.

Wolfheinrich von der Mülbe: Die Zauberlaterne. Büchergilde Gutenberg 2003
www.edition-buechergilde.de