Stig Dagerman: Gebranntes Kind

  Zwei Seiten einer Medaille

Der schwedische Journalist und Autor Stig Dagerman (1923 – 1954) hinterließ trotz seines Selbstmords im Alter von nur 31 Jahren und einer vorausgehenden Schreibblockade eine erstaunliche Zahl von Romanen, Erzählungen, Theaterstücken, Gedichten und Reportagen. Sein bekanntester Roman ist Bränt barn, Gebranntes Kind, von 1948, der nun in einer Neuübersetzung von Paul Berf als zweites seiner Werke nach Deutscher Herbst im Guggolz Verlag erschien. Auf dem wunderschönen Cover sind zahlreiche brennende Kerzen zu sehen, ein sich im Text wiederholendes Bild. Stig Dagerman kündigte seinem Verleger das Buch als einen Roman an, der „von Liebe und Trauer in einem Arbeiterhaushalt in Söder[malm] handelt.“

Ein Potpourri der Gefühle
Im Mittelpunkt steht der 20-jährige Student Bengt Lundin, der zu Beginn gerade seine Mutter verloren hat. Deren Tod stürzt ihn, über dessen geistige Verfassung vor diesem Ereignis wir nichts erfahren, in abgrundtiefe Trauer, die in ebenso heftigen Hass umschlägt, als er während der Trauerfeier von einer Geliebten seines Vaters erfährt. Bengts Wut richtet sich nicht nur gegen den Vater und dessen Affäre Gun, sondern auch gegen seine eigene Freundin, die verhuschte Berit, und gegen den schwarzen Hund, den der Vater mitbringt. Als Bengt, Berit, Gun und der Vater auf dessen Vorschlag hin Mittsommer zu viert auf einer Schäre vor Stockholm verbringen, dem Ort, wo sich einige der Schlüsselstellen des Romans abspielen, will Bengt dort seine Rachepläne in die Tat umsetzen, doch es kommt anders:

Als sein Stuhl sehr eng neben ihrem steht, merkt er jedoch, wie kurz der Schritt zwischen Hass und Liebe ist, sie sind nur zwei Seiten einer Medaille. Nur wen wir lieben, können wir wirklich hassen. (S. 260)

Hintergrundfoto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Guggolz

Reinheit und Lüge
Gebranntes Kind
ist eine überaus fordernde Lektüre, gespickt mit Bildern, Motiven und Gegensatzpaaren. Gefällig oder angenehm zu lesen ist hier nichts, denn nicht nur erweist sich Bengt als schwer gestörter, kranker und sowohl physisch wie psychisch gewalttätiger und unberechenbarer Charakter, auch die anderen verhalten sich abnormal und irrational, ähnlich Co-Abhängigen bei Suchtkranken. Ein Grund dafür liegt in der Ehrfurcht, die sie vor dem Studenten empfinden, aber auch Mitleid und Angst sind im Spiel. Bengt seinerseits kennt nur Verachtung, niemand kann vor seinen strengen Maßstäben bezüglich „Reinheit“ bestehen, niemand ist wie er:

Es gibt nur einen Menschen auf der ganzen Welt, dem du vertrauen kannst, und dieser Mensch bist du selbst. (S. 152)

Zwischen die Kapitel in personaler Erzählweise, hauptsächlich aus Bengts Sicht, stehen seine Briefe an sich selbst und andere, in denen er sich die Welt und seine Gefühle zu erklären versucht. Ausgerechnet er, der angeblich die Verlogenheit so sehr hasst, ist der größte Lügner von allen – und findet auch dafür eine Rechtfertigung:

Wer rein ist, darf mit dem, der unrein ist, alles machen. Denn wer rein ist, hat recht. (S. 41)

Sein eigenes Opfer
Wohlfühlliteratur ist Gebranntes Kind ganz und gar nicht, doch sind die Entsprechungen von Bengts Seelenzuständen mit der Sprache Stig Dagermans großartig: einerseits die knappen, pistolenartigen Sätze, die Bengts Fieber innerer Zerrissenheit widerspiegeln, andererseits die pathetisch-selbstgerechten Briefe und schließlich die zarten Sätze in den intensivsten Momenten der Leidenschaft.

Bengt als unsympathischen Protagonisten zu beschreiben, wäre untertrieben, vielmehr erzeugte er ein durchgehendes Gefühl von Übelkeit und Widerwillen bei mir. Genau das macht diese beeindruckende psychologische Studie über einen Jugendlichen in einer existenziellen Krise jedoch gleichermaßen zeitlos wie empfehlenswert.

Stig Dagerman: Gebranntes Kind. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Mit einem Nachwort von Aris Fioretos. Guggolz 2024
www.guggolz-verlag.de

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