Jede für sich allein
In ihren Heimatländern Syrien, dem Libanon, Israel und Jordanien bilden die vor über tausend Jahren vom Islam abgespaltenen Drusen nur eine verschwindende Minderheit. Ein zentrales Element ihres monotheistischen Glaubens ist die Seelenwanderung. Da das Wissen über die Religion, in die man nur als Kind zweier drusischer Elternteile gelangt, wenigen „wissenden“ Scheichs und Scheichas vorbehalten bleibt, gilt das Drusentum als Geheimlehre.
Der lange Weg zur Freiheit
In ihrem vom Verlag als „autofiktional“ beworbenen Roman Das unsichtbare Band schildert die libanesisch-drusische Autorin Haneen Al-Sayegh, die heute zwischen Berlin und Beirut pendelt, das Leben der jungen Amal. Sie wächst als Tochter von „Wissenden“ in einem abgelegenen libanesischen Bergdorf mit den widersprüchlichen Vorschriften dieser Religion auf und erlebt die Rechtlosigkeit der Frauen und ihre Unterdrückung mittels physischer und psychischer Gewalt. Das begabte Mädchen will aus dem jahrhundertealten Kreislauf aus Schweigen und Unterordnung ausbrechen.
Gedrängt von den Eltern, stimmt sie 15-jährig einer Eheschließung mit einem zehn Jahre älteren vermögenden Kaufmann zu, nachdem sie ihm die Zustimmung zu Schulbesuch und Studium abgerungen hat. Ihr Preis dafür sind fortgesetzte Vergewaltigungen und demütigende, unfreiwillige Prozeduren in einem Kinderwunschzentrum. Obwohl sie ihre Agenda zielstrebig umsetzt und ihren Master in Literaturwissenschaft glänzend besteht, leidet sie unter fehlendem Selbstbewusstsein und Depressionen. Doch die Zeit ihrer Ehe neigt sich dem Ende zu:
Die Magie hat sich gegen den Zauberer gewendet, die Figuren auf dem Schachbrett sind weitergezogen worden. (S. 199)
Ein nicht eingelöstes Versprechen
Ohne Vorwissen über das Drusentum habe ich den Roman Das unsichtbare Band zur Hand genommen, um mehr über die Religion und weibliche Biografien in dieser ultra-strengen Gemeinschaft zu erfahren. Ich war neugierig auf das titelgebende „unsichtbare Band“ zwischen den unterdrückten Frauen. Dass ich kaum mehr über das Drusentum als im Wikipedia-Artikel erfahren habe, mag darin begründet liegen, dass die Autorin keine „Wissende“ ist. Dass das „unsichtbare Band“ sich jedoch als haltloses Versprechen erwies, hat mich sehr enttäuscht. Ganz im Gegenteil sind es immer wieder Frauen, die ihren Geschlechtsgenossinnen Leid zufügen und das Patriarchat stützen, sei es Amals Mutter, die den favorisierten Schwiegersohn ermutigt, oder die Helferin in der Kinderwunschklinik. Die durchweg traumatisierten Frauen in Amals Familie leiden jede für sich allein. Amal selbst knüpft keine Kontakte zu anderen Drusinnen an der Universität Beirut. Ihre Tochter lässt sie zunächst wegen ihres Studiums von ihrer Mutter im zerstörerischen Ambiente ihrer eigenen Kindheit betreuen und opfert sie dann für ihre Freiheit, indem sie das Kind ohne Vereinbarungen über seine Zukunft dem Vater überlässt. Das Buch las sich für mich wie eine Verteidigungsschrift und die Widmung für die Tochter scheint dies zu bestätigen.
Bis zur knappen Hälfte bin ich der Handlung interessiert gefolgt und war auf Amals Seite. Dann allerdings verlor die auf sich fixierte Protagonistin für mich an Glaubwürdigkeit, denn als erfolgreiche Universitätsabsolventin hätte sie das Rüstzeug für einen Blick über den eigenen Tellerrand gehabt, nutzt es jedoch nicht. Vermisst habe ich eine Beschreibung ihres Äußeren, ihrer Kleidung, ihres Alltags und lange sogar ihres Studienfachs. Endgültig enttäuscht hat mich das Buch im letzten Drittel, als sich Amal in einen arabisch-deutschen Schriftsteller verliebt: Kitsch statt Poesie und triviale, aufgesetzt wirkende Dialoge und Briefe, garniert mit philosophischen Passagen, die einer genaueren Betrachtung nicht standhalten. Spätestens beim Umarmen von Bäumen war meine Schmerzgrenze überschritten.
Schade, dass ich trotz der spannenden Thematik weniger als erhofft aus der Lektüre mitnehme. Mag Amal sich durch ihr Weggehen schließlich gerettet haben – ein Hoffnungszeichen für die Zurückgebliebenen ist das nicht.
Haneen Al-Sayegh: Das unsichtbare Band. Aus dem Arabischen von Hamed Abdel-Samad. dtv 2024
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