Klaus Cäsar Zehrer: Das Genie

Versuchskaninchen im elterlichen Labor

Neun Jahre hat Klaus Cäsar Zehrer Material über den vielleicht intelligentesten Menschen aller Zeiten zusammengetragen, den weitgehend unbekannten Amerikaner William James Sidis, der einen IQ von 250 bis 300 gehabt haben soll. In seinem Debütroman Das Genie erzählt er sehr anschaulich, interessant und einfühlsam dessen tragische Lebensgeschichte: das Leben eines Menschen ohne Kindheit, ohne Liebe, ohne echte Freunde, ohne Privatsphäre und vor allem ohne den allerseits erwarteten wissenschaftlichen Erfolg.

William James Sidis wurde 1898 in New York geboren als Sohn eines eingewanderten ukrainischen Juden. Dieser Boris Sidis war nicht nur hochintelligent und ein polyglottes Universalgenie, er strahlte auch eine unwiderstehliche Kraft aus, war ein begnadeter Lehrer, der seiner Frau einen Doktor der Medizin ermöglichte, ohne dass sie jemals eine Schule besucht hatte, und verfügte über ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein. Die Ausrottung der Dummheit, des Duckmäusertums und des Krieges waren die vorrangigen Ziele dieses einst mittellosen Immigranten, der es zu einem Rekord an Harvard-Bildungsabschlüssen bracht und – bis zum Auftreten des von ihm angefeindeten Sigmund Freuds – einer der führenden Professoren für Psychologie und Psychotherapie war.

Ein solcher Mann konnte und wollte die Erziehung seines Sohnes, der auf keinen Fall „normal“ werden sollte, nicht dem Zufall überlassen. Bereits mit der Geburt begann die „Sidis-Erziehungsmethode“ und William wurde zum Versuchskaninchen im elterlichen Labor. Zeitlebens ging es ihnen nicht um ihr Kind, sondern allein um den Nachweis der Wirksamkeit ihres Experiments. Die extreme Frühförderung schien zunächst aufzugehen: William sprach von Beginn an vier Sprachen und brachte sich weitere selbst bei, durchlief die Schule in Rekordzeit und wurde mit acht Jahren der jüngste High-School-Absolvent der amerikanischen Geschichte, nicht ohne den Hass der Mitschüler und die Angst der Lehrer auf sich zu ziehen. Mit elf Jahren wurde er in ein Sonderprogramm für außergewöhnlich begabte Kinder und Jugendliche in Harvard aufgenommen, zu dem vier Wunderkinder, darunter der spätere Mathematikprofessor und Begründer der Kybernetik Norbert Wiener, gehörten. Mit einem Vortrag vor dem Harvard Mathematical Club über die Geometrie der vierten Dimension 1910 wurde William schlagartig einer breiten Öffentlichkeit als Wunderkind bekannt. Doch nicht nur seine außergewöhnlichen Begabungen auf nahezu allen Gebieten fielen auf, auch seine Humorlosigkeit, seine Alltagsuntauglichkeit, seine Unfähigkeit zur  Kommunikation und seine Begeisterung für abwegige Themen wurden kommuniziert.

Warum William James Sidis trotz seiner alles überragenden Fähigkeiten nie die von seinen Eltern, Wissenschaftlern und dem breiten Publikum in ihn gesetzten Erwartungen erfüllte und erfüllen wollte, ist Gegenstand der durchweg fesselnden, 645 Seiten starken Romanbiografie. Im Gedächtnis bleibt er als ebenso exzentrischer wie einsamer Mann, über den es an einer Stelle heißt: „Die Welt hatte keinen Platz für ihn.“ Seine letzten  Lebensjahre bis seinem frühen Tod 1944 verbrachte der überzeugte Pazifist mit einfacher Büroarbeit, dem Sammeln von Straßenbahn-Umsteigebilletts und Rechtsstreitigkeiten mit der aufdringlichen Presse.

Auch wenn Boris Sidis eine gewisse Modernität in Bezug auf Frühforderung, spielerisches Lernen und freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht abzusprechen ist, so ist es doch ein Glück, dass seine Methode sich nicht durchgesetzt hat und unsere Kinder mit Spielzeug, Kinderliedern, Märchen und elterlicher Liebe aufwachsen dürfen.

Klaus Cäsar Zehrer: Das Genie. Diogenes 2017
www.diogenes.ch

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