Wenn Familie kein Schutzraum ist
Wo der Schwede Alex Schulman als Autor draufsteht, ist zuverlässig das Thema dysfunktionale Familie drin. Obwohl es sich bei seinem sechsten Roman Endstation Malma eindeutig um Fiktion handelt, sind viele Splitter und Spuren aus seinen autobiografischen Werken zu finden. Sie zu entdecken, hat mir beim Lesen Freude gemacht, notwendig zum Verständnis ist dies jedoch nicht.
Alles läuft in Malma zusammen
Drei Generationen nehmen den Zug ins abgelegene, verlassene Örtchen Malma, mehrere Stunden von Stockholm entfernt. Sie reisen nicht gleichzeitig, wie man zunächst glaubt, sondern im Abstand vieler Jahre. Drei Namen stehen abwechselnd über den 28 Kapiteln: Harriet, Oskar und Yana. In den 1970er-Jahren fährt Harriet mit ihrem Vater Bo zu einem Begräbnis dorthin, 2001 ist Harriets Ehe am Ende, trotzdem überredet sie ihren Mann Oskar, sie nach Malma zu begleiten, und etwa fünfzig Jahre nach der ersten Fahrt versucht deren Tochter Yana dort, Antworten auf ihre Fragen zu finden. Mit den Perspektivwechseln verschwimmen – sicher vom Autor beabsichtigt – Generationen und Zeitebenen, alles scheint parallel zu verlaufen und man braucht beim Lesen viel Konzentration. Harriets Ur-Katastrophe, als beide Eltern bei der Scheidung ihre Schwester präferierten, zerstörte sie, ließ sie den falschen, da ebenfalls traumatisierten Partner wählen und setzte sich generationenübergreifend fort. Was wird aus einem verschmähten Kind? Wie stark prägt die Kindheit unser Verhalten? Welchen Folgen hat es, wenn Väter ihre Liebe nicht zeigen können und Mütter verschwinden? Wann verliert man sein Kind? Und: Welches Geheimnis liegt in Malma begraben?
Düster, aber nicht hoffnungslos
Alex Schulman, Bestsellerautor in Schweden und mittlerweile vielfach übersetzt, Blogger, Podcaster und Regisseur seines eigenen Theaterstücks am Königlichen Dramatischen Theater Stockholm, verhehlt nicht, dass sein Schreiben selbsttherapeutische Bedeutung hat. Harriets Mantra „You are not alone“ vermag hoffentlich Betroffene aus desolaten Familien stützen. Mich als Nicht-Betroffene setzt die Schulmansche Literatur Erfahrungen aus, die ich sonst eher meiden würde, lässt mich in eine dunkle, verstörende Welt blicken und schafft Verständnis für Verhaltensmuster traumatisierter Menschen. Was Alex Schulmans Bücher über andere, nicht weniger düster-dramatische Kindheits-Literatur hinaushebt, ist sein außergewöhnlich scharfer Blick für kindliche Verletzlichkeit und Sensibilität und die lebenslang offenen Wunden durch Nichtbeachtung und Zurückweisung. Weder Harriets Taktik der beständigen Rückschau, noch Oskars Versuch, die Vergangenheit abzuhaken, die Opferrolle abzustreifen und in die Zukunft zu blicken, vermag zu befreien, und so wird das Trauma an die Tochter Yana weitergereicht. Dass bei ihr zuletzt zarte Hoffnung auf Versöhnung aufkeimt, ist der Lichtblick im Roman.
Puzzlestein für Puzzlestein
Man kann Endstation Malma die auffällige Konstruktion vorwerfen oder das offensichtliche Bestreben, alle Leserinnen und Leser für das Thema zu gewinnen, auch mit Einsatz von Thriller-Elementen. Nichts davon hat mich gestört. Mir gefallen die Virtuosität, mit der Alex Schulman die Puzzlesteine ineinanderfügt, seine Fähigkeit, schleichendes Unbehagen zu erzeugen und sein eleganter Stil. Vorzüglich gelingt der Übersetzerin Hanna Granz die Übertragung der klaren, wohlklingenden Melodie des schwedischen Originals. Wie gut allerdings, dass den unerträglichen Schockmomenten und verstörenden Grausamkeiten so wunderbare Beobachtungen aus dem Zugfenster wie diese gegenüberstehen:
Aus dem Lautsprecher eine Durchsage, der Streckenabschnitt vor ihnen sei eingleisig, sie müssten auf einen entgegenkommenden Zug warten. Sie stehen inmitten einer Wiese, die Blumen reichen den Leuten bis zum Kinn. Wenn der Sommer noch ein paar Zentimeter ansteigt, ertrinken sie. (S. 16)
Ein Lese-Highlight!
Alex Schulman: Endstation Malma. Aus dem Schwedischen von Hanna Granz. dtv 2023
www.dtv.de
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