Julie Otsuka: Solange wir schwimmen

  Überall Risse

2011 brachte ihr zweiter Roman The Buddha in the Attic der 1962 in Kalifornien als Kind japanisch-stämmiger Eltern geborenen Julie Otsuka den internationalen Durchbruch. Auch ich war 2012 begeistert von der deutschen Übersetzung Wovon wir träumten. Einerseits interessierte mich die Thematik der Japanerinnen, die in den 1920er-Jahren als Bräute für die japanischen Einwanderer in die USA kamen, andererseits erzeugten die Erzählweise aus der Wir-Perspektive, die trotzdem Raum für Einzelschicksale ließ, und der besondere Rhythmus einen ungeheuren Sog.

In dieser Wir-Perspektive, die Julie Otsuka perfekt beherrscht, ist auch die erste Hälfte ihres dritten Romans Solange wir schwimmen verfasst, erneut ausgezeichnet übersetzt von Katja Scholtz.

Im ersten Kapitel,Das Schwimmbad unter der Erde“, berichtet ein Chor aus Stammgästen eines unterirdischen Swimmingpools von der Leidenschaft für das Schwimmen, von unterschiedlichen Schwimm-Typen, die man selbst bei jedem Schwimmbadbesuch trifft, von strikten Regeln und eingefahrenen Routinen. Noch ist Alice nur eine unter vielen:

Eine von uns – Alice, eine pensionierte Labortechnikerin in einem frühen Stadium von Demenz – kommt her, weil sie schon immer hergekommen ist. Und auch wenn sie sich vielleicht nicht an die Nummer ihres Schließfachs erinnert und daran, wo sie ihr Handtuch hingelegt hat – sobald sie ins Wasser gleitet, weiß sie, was zu tun ist. (S. 9)

„Der Riss“ auf dem Beckengrund, der sich allmählich vervielfacht, unterbricht in Kapitel zwei jäh die Idylle unter der Erde, im Schwimmkollektiv macht sich Verunsicherung breit, Gerüche, Hypothesen und Antithesen kochen hoch. In der Mitte des nur knapp 160 Seiten umfassenden Romans wird das Bad geschlossen, als letzte steigt Alice aus dem Wasser.

In der allgemeinen Trauer trifft der Bruch ihrer Alltagsroutine Alice besonders hart. Auch durch das Buch geht ein Riss und im dritten Kapitel, „Diem Perdidi“, wechselt die Erzählperspektive von „wir“ zum „sie“. Nun erzählt Alice‘ Tochter über ihre Mutter: was diese noch weiß, und welche Erinnerungen ihr aufgrund des Risses im Kopf verlorengegangen sind. Der Humor der ersten beiden Kapitel weicht der Tragik. Diese Rückblicke der Schriftsteller-Tochter haben mir gut gefallen.

Dann allerdings folgte in Kapitel vier, „Belavista“, mein persönlicher Riss, denn in der direkten Ansprache des Pflegeheims an die neue Bewohnerin Alice hat das Buch mich leider verloren. Dieser Abschnitt strotzt vor unerträglichem, überspitztem Zynismus und machte mich wütend. Der geschäftsmäßige Ton der „gewinnorientierte[n] Langzeit-Pflegeeinrichtung“ (S. 88 ) schürt Ängste und setzt Angehörige von Heimbewohnerinnen und -bewohnern unter Rechtfertigungsdruck. Keinerlei Berücksichtigung findet hier, dass Alice für ihre eigene, sehr geliebte Mutter genau diese Einrichtung wählte, und dass nicht jede auf den ersten Blick abschreckende Maßnahme im Umgang mit Dementen falsch ist.

Entsprechend hat mich das abschließende fünfte Kapitel, „EuroNeuro“, geschrieben in einer von sich selbst distanzierenden Du-Perspektive, kaum mehr erreicht. Die Krokodilstränen einer schuldbehafteten Tochter, die jahrelang wenig Kontakt zur Mutter hatte und nun mit ihrem Zu-Spät-Kommen hadert, ließen mich vergleichsweise kalt. Die auf dem Buchrücken postulierte „Liebe einer Tochter“ konnte ich selten entdecken, eher schon berührte mich die stille, hilflose Trauer des Vaters beim allmählichen Verschwinden seiner Frau.

Schade, denn ich hatte mich sehr auf den neuen Roman von Julie Otsuka gefreut. Zwar hat er mit der sprachlichen Verknappung, den wechselnden Erzählperspektiven und dem unverwechselbaren Rhythmus stilistisch meine Erwartungen erfüllt, inhaltlich jedoch leider in den letzten beiden Teilen nicht.

Julie Otsuka: Solange wir schwimmen. Aus dem amerikanischen Englisch von Katja Scholtz. mare 2023
www.mare.de

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