Mehrere Anfänge, ein Ende
Was eine Tragödie ausmacht, sagte die Frau, ist, dass wir immer wissen, wie sie endet. […] Und trotzdem lesen wir, warum auch immer weiter. Wir leben weiter, als wüssten wir nicht, was am Ende passiert. (S. 185)
Vom tragischen Ende erfahren wir im Roman der 1983 geborenen chilenischen Autorin Alia Trabucco Zerán gleich zu Beginn:
Das Mädchen ist tot. (S. 8)
Aufklärung über die Hintergründe der sich durch viele warnende Vorzeichen anbahnenden Tragödie verspricht uns die Hausangestellte einer bürgerlich-wohlhabenden Familie in Santiago de Chile. Estela García, wahrscheinlich indigener Herkunft, sitzt in einem Gefängnis und weiß nicht, wer sich hinter der Spiegelwand befindet. Aber endlich hört ihr, wie sie vermutet, jemand zu, endlich hat sie einen Namen. Die Frau, die auf dem sehr gelungenen Cover ohne Kopf abgebildet ist, holt weit aus, erzählt die Geschichte mit mehreren Anfängen und fordert immer wieder die Aufmerksamkeit ihres vermeintlichen Publikums ein.
Von Chiloé nach Santiago
Gegen den Rat ihrer Mutter verließ die 33-jährige Estela ihre Heimatinsel Chiloé im Süden Chiles, um als Hausangestellte in Santiago zu arbeiten. Unmittelbar vor der Geburt ihrer Tochter Julia stellten ein Arzt und eine Rechtsanwältin sie ein, fortan lebte sie bis zum Tod des Mädchens sieben Jahre später in einem Hinterzimmer der Küche und kümmerte sich rund um die Uhr an sechs Tagen die Woche um alle Belange des Haushalts und das Kind. Ihre freien Sonntage verbrachte Estela meist im Bett und telefonierte nur mit ihrer Mutter.
Estela war keine duldsame oder gar dankbare, ihren Arbeitgebern freundlich ergebene Angestellte, obwohl sie deren korrektes Verhalten mehrfach betont. Sie kämpfte mit psychischen Problemen, war hin- und hergerissen zwischen Wut, Verzweiflung, Auflehnung, Hass, Rachegedanken und doch auch Zuneigung, zumindest zu Julia, obwohl ihre Mutter sie davor immer gewarnt hatte. Als Einzige sah sie, wie unglücklich und gestört das überforderte Mädchen war, wie sie unter den rigiden Leistungsanforderungen ihrer neoliberalen Eltern litt, schon im Kindergarten den gnadenlosen Konkurrenzkampf ihrer Gesellschaftsklasse aufnahm und mit Gewaltausbrüchen sowie ihrem Hang zur Selbstverletzung nach Hilfe schrie. Gleichzeitig kopierte die tyrannische Julia früh das Verhalten ihrer Eltern gegenüber Estela: Distanziertheit bis zur Ignoranz, strenge Hierarchie und Reduktion der Hausangestellten auf ihre Funktion.
Schattenseiten der Leistungsgesellschaft
Wer Mein Name ist Estela als Krimi oder gar Thriller liest, wird mit dem Ende hadern. Gleichzeitig war das Buch für mich aber auch kein Manifest gegen die Unterdrückung der unteren chilenischen Klasse, denn dazu taugt die offensichtlich unzuverlässige, mit psychischen Problemen kämpfende und auf die Wirkung ihrer Worte bedachte Ich-Erzählerin Estela nicht, die trotz ihrer eloquenten Schilderungen kein Interesse für die politische Lage im Land erkennen lässt. Ich habe den Roman trotzdem gern gelesen, wegen seiner schwebenden, soghaften Erzählweise einerseits, andererseits wegen der Einblicke in eine neoliberale Gesellschaft von unten. Niemand ist hier glücklich, weder die prekär beschäftigte Hausangestellte, noch die von starken Ängsten beherrschte bürgerliche Familie. Für mich ist Mein Name ist Estela daher vor allem ein psychologischer Roman über eine labile, mit ihrem Leben hadernde Frau und die Schattenseiten einer gnadenlos auf Erfolg getrimmten Leistungsgesellschaft, deren Bedrohung via Fernsehen ins Haus kommt.
Alia Trabucco Zerán: Mein Name ist Estela. Aus dem chilenischen Spanisch von Benjamin Loy. Hanser Berlin 2024
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/hanser-berlin