Meri Valkama: »Deine Margot«

  Die Kindheit als schwarzes Loch

Meri Valkama, 1980 geborene finnische Investigativ-Journalistin und Autorin, teilt ein biografisches Detail mit Vilja Siltanen, der Protagonistin ihres Debütromans Deine Margot: Beide verbrachten Kinderjahre in Ost-Berlin. Während die Autorin zum Studium an die Freie Universität Berlin im dann vereinten Deutschland zurückkehrte, führt Vilja der Fund von Briefen in einer Blechdose nach dem Tod des Vaters 2011 zurück. Wer ist „Margot“, die ihre Briefe an „Erich“, offensichtlich der Vater, richtete, und die die Mutter angeblich nicht kennt? Warum hat Vilja selbst keinerlei Erinnerungen an die Zeit zwischen ihrem dritten und sechsten Lebensjahr in Ost-Berlin und an die Frau, die sie in ihren Briefen „Kastanie“ nennt?

Sie schreibt, als wäre ich ihr Kind, und ich erinnere mich überhaupt nicht an sie. (S. 50)

Eine verhängnisvolle Affäre
1983
zieht die Familie Siltanen von Helsinki nach Ost-Berlin. Vater Markus arbeitet als   Auslandskorrespondent für eine finnische sozialistische Zeitung und glaubt fest an die DDR, Mutter Rosa erhofft sich im realen Sozialismus Zeit für ihre eigene Karriere, Vilja, 2, und Matias, 4, besuchen ein Kindertagheim. Der Start in einem Plattenbau unweit des Fernsehturms ist vielversprechend, die DDR erscheint den Eltern als Paradies, zumal sie jederzeit in West-Berlin einkaufen können. Doch dann verliebt Markus sich in eine andere Frau. Als Rosa mit Matias wegen der Luftverschmutzung für einige Wochen zur Erholung nach Finnland reist, bilden Markus, seine verheiratete Geliebte und Vilja eine Familie auf Zeit. Fast vier Jahre bleibt Markus‘ Affäre geheim, dann besteht Rosa nach ihrer Entdeckung 1987 auf einer überstürzten Heimkehr. Die Ehe zerbricht schließlich trotzdem, Vilja wächst beim Vater auf, Matias bei der Mutter.

Foto (Fernsehturm): © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © FVA

Verschiedene Perspektiven und Zeitebenen
Meri Valkama erzählt ihren gut 530 Seiten umfassenden Roman aus verschiedenen Perspektiven und auf mehreren Zeitebenen. Viljas Reise nach Berlin 2011/2012, mit der sie das schwarze Loch in ihrer Erinnerung schließen, die Rolle des Vaters in der DDR aufdecken und „Margot“ finden möchte, bildet den Rahmen. Ihr Wunsch nach Erinnerung ist stärker als die Zweifel an der Legitimation ihrer Nachforschungen, von denen sie weder Mutter noch Bruder abhalten können:

»Ein Versuch, zu verstehen«, sagte sie schließlich. »Mich selbst. Und Vater. Was zum Teufel eigentlich mit uns passiert ist.« (S. 469)

Die Jahre 1983 bis 1989 werden aus der Perspektive der Eltern erzählt. Die Briefe von „Margot“ datieren von August 1987 bis Oktober 1989.

Bestes finnisches Debüt 2021
Obwohl der Ausgangspunkt der Handlung mit dem Fund der Briefe einem altbekannten Muster folgt, es bei Viljas Recherchen einiger Zufälle bedarf und die erzählenden Passagen mir sprachlich deutlich besser gefielen als die zahlreichen Dialoge, habe ich Deine Margot insgesamt gern gelesen. Der Blick einer finnischen Autorin auf die neuere deutsche Geschichte und die Vorboten der Wende – Gorbatschows Perestoika, das Massaker auf dem Pekinger Tiananmenplatz und die Atomkatastrophe von Tschernobyl – ist bereichernd, wenngleich mir bezüglich der Wiedervereinigung zu einseitig pessimistisch. Den historischen Hintergrund hat die Autorin gut recherchiert und in die Handlung um starke Frauenfiguren und zögerliche Männer eingebunden. Sehr gekonnt beleuchtet Meri Valkama die zentralen Themen Erinnerung und Identität einerseits am Einzelschicksal, andererseits am Beispiel einer Nation. Belohnt wurde sie dafür 2021 mit dem Preis der auflagenstärksten finnischen Tageszeitung Helsingin Sanomat für das beste Debüt.

Meri Valkama: »Deine Margot«.  Aus dem Finnischen von Angela Plöger. Frankfurter Verlagsanstalt 2024
www.fva.de

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