Niemand ist zu alt, um sich zu ändern
Herr Schmidt, Hausgerätetechniker im Ruhestand und seit 52 Jahren verheiratet, kann weder eine Kaffeemaschine bedienen noch eine Kartoffel kochen. Bisher war das auch nie nötig, hat doch Barbara, seine Frau, ihn vorbildlich umsorgt in der neuen Küche, seinem Geschenk zur Goldenen Hochzeit und allein „Barbaras Reich“. Doch eines Tages fehlt der gewohnte morgendliche Kaffeeduft, Barbara ist im Badezimmer zusammengebrochen und steht, als er sie mühsam ins Bett verfrachtet hat, nicht mehr auf. Herrn Schmidts Glaube an Barbaras unerschütterliche Gesundheit erweist sich als tragischer Irrtum.
Ende der Alltagsroutine
Es war keine Liebesheirat, eher eine Verpflichtung, als sich ein Kind ankündigte. Viel Arbeit musste Herr Schmidt in Barbara investieren, den russischen Akzent abtrainieren, sie aufpäppeln, monatelange Küchenmissgeschicke ertragen, den Widerstand seiner Mutter überwinden und verhindern, dass man in dem Dorf bei Frankfurt, in das er und seine Mutter als Flüchtlinge gekommen waren, mehr als nötig auffiel. Und doch scheint sich das Ehepaar Schmidt eingerichtet zu haben, jeder in seinem eng begrenzten Zuständigkeitsbereich, Herr Schmidt in der Erwerbsarbeit, Barbara zuhause. Nun wird die gewohnte Routine unterbrochen und Herr Schmidt durch die Vertreibung aus seiner Komfortzone aus der Bahn geworfen. Oder sorgt er sich doch um Barbara?
Küche statt Krankenpflege
Alina Bronsky erzählt die Geschichte konsequent in personaler Erzählweise aus der Sicht von Herrn Schmidt, der als einziger nie mit seinem Vornamen, Walter, genannt wird. Da er Barbaras Krankheit nicht beim Namen nennt, erfahren wir weder, worunter sie leidet, noch direkt, wie es ihr geht. Für die medizinische Behandlung, später den Pflegedienst, sind die beiden Kinder Sebastian und Karin zuständig, zu denen Herr Schmidt schon lange einen wenig herzlichen Kontakt pflegt. Wie Barbaras Krankheit verdrängt Herr Schmidt auch hier, womit er nicht umgehen kann: Sebastians schwarze (Ex-)Frau mit dem Enkel sowie Karins lesbische Beziehung zu Mai, für ihn lediglich ihre „beste Freundin“. Nur die sich häufenden Besuche und besorgte Nachfragen aus Barbaras erstaunlich großem, Herrn Schmidts überschaubarem Bekanntenkreis lassen die tatsächliche Dramatik erahnen.
Herr Schmidt dagegen wirft sich in die Küchenarbeit, unterstützt von der Bäckereiverkäuferin, dem Fernsehkoch Medinski und dessen Internet-Fangemeinde. Dass Barbara von seinen immer komplizierteren Koch- und Backversuchen immer weniger essen kann, ist ein weiterer Hinweis auf ihren sich verschlechternden Gesundheitszustand. Dabei ist Herr Schmidt sicher:
Wenn sie gut isst, wird sie gesund. (S. 129)
Barbara geht es gut. […] Das Wichtigste ist, dass sie nicht verhungert. Dafür sorge ich. […]“ (S.211)
Die offenbare Ignoranz ihres Vaters irritiert auch Karin:
„Papa. Ich verstehe, es ist schwer.“
„Nichts ist schwer. Lass mich.“
„Papa. Deine Reaktionen sind verstörend. Das muss aufhören. Wir können doch nicht die ganze Zeit vor Ort sein.“
„Das hoffe ich.“ (S. 164/165)
Humorvoll, aber nicht belanglos
Barbara stirbt nicht ist weniger skurril als vorherige Romane von Alina Bronsky wie Baba Dunjas letzte Liebe oder Der Zopf meiner Großmutter, obwohl Herr Schmidt mit seiner aberwitzigen Lebensuntüchtigkeit durchaus solche Züge aufweist. Seine Wandlung vom unsensiblen, politisch unkorrekten Kotzbrocken zum einigermaßen empathiefähigen Zeitgenossen, der mir wider Willen sympathischer wurde, ist humorvoll-leicht, bisweilen schräg und immer kurzweilig beschrieben, wobei mir seine Facebook-Karriere oder das alte Familiengeheimnis zu übertrieben waren. Sehr gelungen sind dagegen die lebenserhaltenden Verdrängungsmechanismen, ein literarisches Thema, das mich immer wieder zu fesseln vermag. Barbara stirbt nicht ist deshalb nur vordergründig ein leichtes Wohlfühlbuch. Auf den zweiten Blick entdeckt man mehr.
Alina Bronsky: Barbara stirbt nicht. Kiepenheuer & Witsch 2021
www.kiwi-verlag.de
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