Ann-Helén Laestadius: Das Leuchten der Rentiere

  Kampf an allen Fronten

Schwedische Romane in deutscher Übersetzung sind zumeist entweder Krimis oder Wohlfühlliteratur aus einem vermeintlichen Sehnsuchtsland. Letzteres könnte man auch bei Das Leuchten der Rentiere vermuten, klingt der Titel doch nach intakter Natur und Polarlichtromantik, doch bewahrt der Blick auf den Originaltitel Stöld, Diebstahl, vor einem Irrtum. Der 2021 in Schweden erschienene erste Roman für Erwachsene der aus einer Sámifamilie stammenden, 1971 in Kiruna geborenen Journalistin und erfolgreichen Kinder- und Jugendbuchautorin Ann-Helén Laestadius kreist um die aktuelle Lebenssituation dieser schwedischen Minderheit. Der in ihrer Heimat zum Bestseller avancierte, als Årets bok 2021 ausgezeichnete Roman greift die existenzgefährdenden Bedrohungen dieser auf Schweden, Norwegen, Finnland und Russland verteilten einzigen indigenen Bevölkerungsgruppe Europas auf und macht sie sichtbar:

Samisch zu sein bedeutete, seine Geschichte in sich zu tragen, als Kind vor dem schweren Rucksack zu stehen und sich zu entscheiden, ihn zu schultern oder nicht. (S. 213)

Ende der heilen Kinderwelt
Der Roman beginnt im Winter 2008 mit einem traumatischen Erlebnis, welches das behütete Aufwachsen der neunjährigen Sámi Elsa schlagartig beendet. Als sie zum ersten Mal alleine auf ihren neuen Skiern zum Rentiergehege ihrer Familie kommt, überrascht sie dort einen brutalen schwedischen Wilderer aus dem Nachbardorf, der ihr Rentierkalb Nástegallu getötet hat:

Alles hatte sich verändert, nachdem sie Nástegallu tot aufgefunden hatte. Als die Erwachsenen die brutale Realität nicht mehr verbergen konnten […] (S. 330)

Eingeschüchtert von seinen Drohungen, schweigt Elsa und die Polizei legt die Anzeige, wie so viele andere zuvor und danach, zu den Akten. Ihre Schuldgefühle wird sie nie wieder los:

Alles wäre anders gekommen, wenn ich mich getraut hätte, etwas zu sagen. (S. 416)

© Hintergrund: M. A. Busch, Collage: B. Busch

Zehn Jahre danach
Der zweite und dritte Buchteil spielen im Spätherbst 2018 und im Frühlingsommer 2019. Bei Elsas Rückkehr ins Dorf nach dem Abitur ist alles unverändert: Wilderer, vor allem der ihr bekannte Robert Isaksson, quälen und töten weiterhin Rentiere und handeln illegal mit ihrem Fleisch, weitgehend unbehelligt von der teils überforderten, teils desinteressierten Polizei, die die Taten zum Unverständnis der Sámi als Diebstähle, nicht als Morde betrachtet. Der Klimawandel bedroht die traditionelle Rentierwirtschaft genauso wie die Umweltzerstörung durch Bergbauunternehmen und die feindselige Unwissenheit der nicht-samischen Bevölkerungsmehrheit, trotz eigener samischer Schule sind Kinder wie Eltern strukturellem Rassismus ausgesetzt und die samische Kultur wird auf touristische Folklore reduziert. Psychische Erkrankungen und Selbstmorde sind alltäglich. Gleichzeitig wird Elsas Mutter als „Ringvu“, die nicht im samischen Sippenbuch steht, trotz aller Anstrengungen nie voll akzeptiert und Elsa, die für die Rentierherden brennt, von den patriarchalen Strukturen ausgebremst. Doch Elsa ist nicht mehr das kleine ängstliche Mädchen, sie möchte sich nie mehr einschüchtern lassen und kämpft trotz des Gegenwinds aus allen Richtungen für ihre eigene Zukunft und die ihrer Volksgruppe – bis auch sie an ihre Grenzen stößt…

Ruhig und einfühlsam erzählt
Ich habe Das Leuchten der Rentiere, das eine mir gänzlich unbekannte Seite Schwedens vorstellt, von Beginn an mit großer Begeisterung gelesen, zunächst vor allem wegen der faszinierenden Beschreibungen samischen Lebens und der Landschaft, später auch wegen der dramatisch zugespitzten Spannung. Sehr gekonnt verknüpft Ann-Helén Laestadius die hoffnungsvolle Entwicklungsgeschichte ihrer sympathischen Heldin mit dem weitgehend unbekannten Schicksal der Sámi und wirbt eindrucksvoll für deren berechtigte Interessen.

Ann-Helén Laestadius: Das Leuchten der Rentiere. Aus dem Schwedischen von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt. Hoffmann und Campe 2022
hoffmann-und-campe.de

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