János Székely: Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann

  „Die Moral ist in jedem Zeitalter das, was der herrschenden Klasse nutzt“

Romane über Dachbodenfunde anlässlich der Auflösung elterlicher oder großelterlicher Häuser gehören nicht zu meinen bevorzugten Lektüren, allzu abgedroschen ist das Thema inzwischen. Ist die Entdeckung jedoch der Roman selbst, wie bei dem 70 Jahre lang verschollenen Manuskript Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann des Ungarn János Székely (1901 – 1958), wird es richtig spannend. Er verließ sein Heimatland 1918 auf der Flucht vor dem Weißen Terror des Horthy-Regimes, arbeitete erfolgreich als Drehbuchautor in Berlin, emigrierte 1938 nach Hollywood, erhielt 1940 einen Oscar, veröffentlichte 1946 seinen bekanntesten Roman Verlockung und ging während der McCarthy-Ära wie viele Kunstschaffende ins mexikanische Exil. Dort entstand höchstwahrscheinlich das Manuskript, dessen englische Fassung der Übersetzer und Autor Tony Kahn 2020 auf seinem Dachboden in Truro, Cape Cod, fand und Székelys Tochter Katherine Frohriep übergab. Nun ist es erstmals im Diogenes Verlag auf Deutsch erschienen, mit reichem Anhang und als Übersetzung der englischen Übersetzung, denn das ungarische Original ist weiterhin verschollen.

Götterdämmerung
Der Romans spielt hauptsächlich in einer heißen Sommernacht 1944, als die Ungarn, je nach Gesinnung, die endgültige Niederlage der deutschen Wehrmacht herbeisehnten oder fürchteten. Ergänzend gibt es ausführliche Rückblenden und einen kurzen Epilog über das weitere Schicksal der wichtigsten Personen.

Ein Bogen über sieben Jahrhunderte
1944 geht es dem bäuerlichen Stand genauso schlecht wie seit 700 Jahren, die Herren wechselten, nicht jedoch die elenden Bedingungen. Im fiktiven Dorf Kákásd gewährt der wortkarge Bauer János Garas zwei Zigeunern – die editorische Notiz erklärt die ausnahmsweise Verwendung dieses Begriffs – Unterschlupf vor den Nazi-Schergen und ihren ungarischen Handlangern. Die aufgeweckte junge Wanderzigeunerin Julka, mangels Alternativen zum Wahrsagen und zur Prostitution verdammt, und der eitel-überhebliche Zigeuner-Primas Marci Balogh VI lernten sich bei der Flucht aus einem KZ-Deportationszug kennen. Sie stellen sich Garas als Geschwister vor, Julka lebt fortan bei ihm im Haus und bezahlt dafür mit ihrem Körper, Marci, rasend verliebt, findet sich im Stall wieder, bis Garas ihm eine Stelle als Geiger im Bordell vermittelt. Während sich im Dreiecksverhältnis unter Garas‘ Dach die Vorzeichen allmählich ändern, zittert die unter dem Schutz des dekadenten, nur noch als Verwalter im ehemals familieneigenen Schloss beschäftigten Grafen Tamás Boncza stehende jüdische Familie Stern/Rosenberg um ihr Leben, beginnt Marci eine gefährliche Affäre mit Nusi, der Frau des neuen Schloss-Pächters, Nazi-Massenmörders und Vize-Ministers Lóránt Barankay und planen die Bauern, getrieben von jungen Kriegsrückkehrern, den ersten Streik seit 700 Jahren:

Man hatte ihnen befohlen, Menschen zu ermorden, die ihnen nichts getan hatten, sodass sich jetzt ihre Mordlust gegen die wandte, die ihnen jahrhundertelang nichts als Leid angetan hatten. (S. 276)

© B. Busch

Die Welt verstehen
János Székelys Verlockung gehört für mich zu den ganz großen, unvergesslichen Romanen der Weltliteratur. Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann reicht nicht ganz an dieses frühere Werk heran, fehlt ihm doch merklich ein Lektorat. Viel zu lang und quälend detailliert sind für mich die Kapitel über die Sexbesessenheit Marcis im ersten Teil und auch der interessante politische Diskurs in der zweiten Hälfte hätte von einer Straffung profitiert. Trotzdem ist auch dieser Roman unbedingt lesenswert. Er strahlt durch seine vielen Einzelschicksale und zeigt am Mikrokosmos eines Dorfes das Schicksal Europas:

[…] du kannst die Welt nicht verstehen, wenn du Kákásd nicht verstehst. (S. 438)

János Székely: Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann. Herausgegeben von Silvia Zanovello. Mit einem Nachwort von Sacha Batthyany und einer Erinnerung von Katherine Frohriep geb. Székely. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Diogenes 2023
www.diogenes.ch

 

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