Claudia Piñeiro: Kathedralen

  Lange Schatten eines Todes

An manchen Orten fällt das Überleben besonders schwer – in der Wüste, auf einer unbewohnten Insel, auf einem Berggipfel, auf dem Mars, in einem Land, in dem Krieg herrscht, im Urwald. Oder in meiner Familie. (S. 61)

Ein 30 Jahre zurückliegender Todesfall ist Dreh- und Angelpunkt des Romans Kathedralen, 2020 eine der meistverkauften Neuerscheinungen Argentiniens. Mit viel Wut hat die politisch engagierte, 1960 in Buenos Aires geborene Autorin und Journalistin Claudia Piñeiro das Buch geschrieben, das trotz des im Mittelpunkt stehenden Verbrechens kein Krimi ist, eher schon ein belletristisches Debattenbuch mit deutlicher Positionierung mittels krasser Charaktergestaltung.

Sieben schwer vom Tod der 17-jährigen Ana Sardá betroffene Personen kommen mit sprachlich hervorragend unterscheidbaren Stimmen zu Wort, ein großer Pluspunkt des Romans, der auch dem Übersetzer Peter Kultzen zu verdanken ist. Bei allen hinterließ der Fund der zerstückelten, verbrannten Leiche der jüngsten der drei Sardá-Schwestern auf einer Müllhalde tiefe Spuren. Die Familie aus der gebildeten, streng katholischen Mittelschicht zerbrach daran.  

Jeder hat seine eigene Kathedrale
Bei der mittleren Schwester Lía überwiegen Wut und Ratlosigkeit. Nie verziehen ihr ihre strenggläubige Mutter und ihre älteste Schwester Carmen die Abkehr vom Glauben ausgerechnet während der Totenwache. 9000 Kilometer von Buenos Aires entfernt führt sie inzwischen eine Buchhandlung in Santiago de Compostela, nur mit dem Vater in Briefkontakt. Ihre Kathedralen sind die Bücher.

© Kathedrale von Santiago de Compostela: A. Pape, © Gesamtbild: B. Busch

Mateo leidet unter seinen fanatisch katholischen Eltern Carmen und Julián, liebt dagegen seinen Großvater Alfredo, der ihn zu einer Reise zu den Kathedralen Europas ermuntert und ihm drei Briefe mitgibt: für ihn, für Lía und für beide gemeinsam. Seine Kathedrale besteht aus Fragezeichen.

Höchst anrührend ist Marcela, Anas beste, in unverbrüchlicher Treue verbundene Freundin. Seitdem ihr in Anas Todesnacht in einer Kirche eine Statue des Heiligen Gabriel auf den Kopf fiel, leidet sie unter anterograder Amnesie, einem Totalverlust des Kurzzeitgedächtnisses. Obwohl sie sich an alles vor dem Unfall perfekt erinnert, gilt sie als unbrauchbare Zeugin. Erst als ihr der todkranke Alfredo endlich zuhört, kommt Bewegung in die Aufklärung. Ihre Kathedralen sind ihre Notizhefte.

Elmer zweifelte als damals junger Polizist die Theorie des Sexualverbrechens mit Vertuschungsmord erfolglos an. Seine Kathedrale ist die Ermittlungsarbeit.

Für Carmen verließ Julián das Priesterseminar, seine Berufung hielt dem Begehren nicht stand. Seine Kathedrale ist die Stärke seiner Frau, mit der er seine Schwäche kompensiert.

Carmen ist stolz auf ihren radikalen Glauben, ihre Kathedrale, und fühlt sich durch ihn unangreifbar und erhaben.

Alfredo gab die Suche nach dem Mörder seines „Kückens“ nie auf. Er ist froh, kurz vor seinem Tod die Wahrheit bis zu einem für ihn erträglichen Maß erfahren zu haben. Seine Kathedrale besteht aus Lieblingswörtern wie „Lía“ und „Mateo“, die er gerne vereint sehen möchte.

Ein starkes gesellschaftliches Plädoyer
Dass Claudia Piñeiros Figuren kaum Grautöne aufweisen, hat mich wegen ihrer Stimmigkeit nicht übermäßig gestört hat. Kathedralen ist für mich keine Abrechnung mit dem Katholizismus, wohl aber mit dessen selbstgerechter, unbarmherziger, scheinheilig-heuchlerischer Ausübung und der blinden Ergebenheit des Staates gegenüber der Institution Kirche.

Krimifans kämen zwar beim sehr ausführlich geschilderten grauenhaften Tathergang auf ihre Kosten, doch passt die frühe Absehbarkeit nicht zu diesem Genre. Mich haben die Enthüllungen trotzdem bis zum Schluss gefesselt, weshalb ich den gesellschafts- und kirchenkritischen Roman mit Gewinn gelesen habe.

Claudia Piñeiro: Kathedralen. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Unionsverlag 2023
www.unionsverlag.com

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