Île de Sein – Insel der Wunder
Eigentlich wollte ich diesen Roman hauptsächlich lesen, weil ich mit der Bretagne, speziell dem Finistère, die Erinnerung an zahlreiche Familienurlaube während meiner Kindheit und Jugendzeit verbinde und sowohl die Île de Sein als auch Audierne und die Pointe du Raz sehr gut kenne. Meine Erwartungen an die Beschreibung der Landschaft und des Meeres, der Menschen, der Geschichte und Legenden sowie die Atmosphäre dieser einzigartigen Region haben sich voll erfüllt. Dass Françoise Kerymer, die ich bis dahin nicht kannte, darüberhinaus eine ganz wunderbare Geschichte im Stil ihrer Landsfrauen Claudie Gallay und Isabelle Autissier erzählt, poetisch, in der Gegenwart verfasst, vieles in Andeutungen belassend, war für mich, die ich eher einen seichten Unterhaltungsroman befürchtet hatte, eine ganz besonders positive Überraschung. Françoise Kerymer bettet die Handlung so gekonnt in die Umgebung ein, dass beides zu einem Ganzen verschmilzt und die Folge der Ereignisse sich zwangläufig aus den örtlichen Gegebenheiten zu ergeben scheint.
Dabei scheint die Verschmelzung zunächst unmöglich, denn die junge Frau, Emma, die zu Beginn des Sommers auf der Île de Sein ankommt, ist auf Anordnung ihres dominanten Ehemanns für zwei Monate mit ihrem siebenjährigen Sohn Camille zur Strafe dorthin verbannt. Sie hat kein Auge für die Schönheit der Natur, den Charme des Granithäuschens, das ihr zu klein und zu feucht ist, und die Menschen auf Sein. Ursprünglich eine kleine Stylistin aus dem Süden, hat sie einen märchenhaften Aufstieg als Frau eines reichen Pariser Geschäftsmannes erlebt, doch die Ehe hat sich abgenutzt, sie ist nur das hübsche Anhängsel ihres Mannes, und Camille, der hochbegabte Sohn, mit dem sie überhaupt nicht zurechtkommt, eine einzige Enttäuschung. Die Insel wirkt auf Emma bedrohlich, sie fühlt sich isoliert, erdrückt und trauert allen verpassten Chancen ihres Lebens nach. Camille dagegen, der Junge, der nie mit Kindern spielt, der druckreife Sätze spricht, in Paris psychiatrisch betreut wird, den ein ständiger Wissenshunger antreibt und unberechenbar macht, und in dem doch immer wieder eine rührende Kindlichkeit durchschimmert, wenn er sich nach der Liebe seiner Mutter sehnt, findet Freunde: Armelle, die Wirtin des Gasthofs, eine lebenskluge, geduldige, herzensgute Frau, und den Musiker Louis-Camille, der vor vier Jahren seine Dirigentenkarriere aufgegeben und sich auf Sein zurückgezogen hat. Es bedarf eines gefährlichen Abenteuers und einer existenzbedrohenden Erfahrung, um auch bei Emma eine äußere wie innere Veränderung hervorzurufen, sie für die Schönheit und den Charakter der Landschaft zu öffnen, ihr die Menschen näherzubringen und ihren Sohn zu akzeptieren, wie er ist. Der Kapitän der Fähre, Ronan, hat maßgeblichen Anteil daran, dass Emma ihre von Wind und Salz getrocknete, hart gewordene Haut abstreifen und zurücklassen kann – Sein hat wieder einmal ein Wunder bewirkt.
Erst im kurzen Epilog erfahren wir, was etwa 20 Jahre nach diesem Sommer aus den Protagonisten, die mir so sehr ans Herz gewachsen sind, geworden ist.
Einziger Kritikpunkt ist für mich die auffällig hohe Zahl von nervigen Druckfehlern, ganz untypisch für Bücher von btb. Es wäre sehr schön, wenn sie in der nächsten Auflage korrigiert würden.
Françoise Kerymer: Zwischen Himmel und Erde. btb 2017
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