Inselleben im Zeitenwandel
Unter dem Motto „Verwurzelt in der Zukunft“ präsentiert sich Italien im Oktober 2024 als Gastland der Frankfurter Buchmesse. Meine erste Lektüre in diesem Jahr habe ich passend dazu ausgewählt: Mattanza von Germana Fabiano, einer 1971 in Palermo geborenen, heute teils in Tübingen lebenden und lehrenden Autorin. Der Roman handelt vom Untergang des traditionellen Thunfischfangs auf der kleinen Insel Katria vor Sizilien und den Folgen der Globalisierung, eine melancholische Hommage an ihre Landsleute und deren verschwundene Welt.
Ein Fehler Gottes
1960 entgeht die Insel nur knapp einer Katastrophe. In der zweiten Generation hintereinander wird dem amtierenden Raìs und damit Anführer der Tonnata von Katria, dem traditionellen Thunfischfang, kein männlicher Nachkommen geboren. Die Geburt der Enkelin Eleonora Greco, genannt Nora, ist für die Thunfischfänger ein Schock:
In jener Februarnacht, in der sie geboren wurde, hatten die Tonnaroti erkannt, dass selbst Gott nicht unfehlbar war, an Eleonora klebte der Fluch der Insel, und niemand konnte etwas dagegen tun. (S. 10)
Der Raìs sieht nur einen Ausweg:
Es steht fest, dass der Raìs von unserem Blut sein muss, aber dass es keine Frau sein darf, hat niemand gesagt. (S. 12)
Der letzte Raìs: eine Frau
Obwohl sie das Meer verabscheut, akzeptiert Nora ihre Bestimmung. Als von allen behütete Außenseiterin lernt sie mit eiserner Disziplin die Choreografie des aus Netzen kunstvoll angelegten Labyrinths, veranschaulicht als Skizze im Anhang des Romans, und das abschließende brutale Abschlachten der Thunfische, die Mattanza. Ab 1979 leitet sie den Fang allein. Doch während die Dorfgemeinschaft sich mit allen denkbaren Mitteln gegen die Versuche der gräflichen Familie Filangeri stemmt, die Fischfabrik an die asiatische Konkurrenz zu verkaufen und die Unterstützung für die Tonnara einzustellen, sind andere Gegner übermächtig: die Flotten hochgerüsteter Fangschiffe aus Asien, die Eroberung der Insel durch Touristen und die Massenanlandung von Flüchtlingen aus Afrika.
Concerto Siciliano
Mattanza ist der mittlere Band einer 2016 in Italien erschienenen Trilogie mit dem Titel Concerto Siciliano und der erste ins Deutsche übersetzte Teil. In jedem der drei unabhängigen Romane stehen Frauen im Mittelpunkt. Während Mattanza, im Original L’Ultimo Raìs, zwischen 1960 und 2012 spielt, geht es in Motya um die sizilianische Antike und in Scilla e Cariddi um die nahe Zukunft der Insel.
Lebendige Charaktere
Überzeugt hat mich Mattanza durch den packenden Beginn, allerdings verlor Nora mit fortschreitender Handlung an Schärfe. Großartig gelingt Germana Fabiano die Charakterisierung der Inselbewohnerinnen und –bewohner, denen sie eigene Gesichter und unvergessliche Geschichten gibt, manchmal traurig, manchmal humorvoll und immer berührend. Kaum zu ertragen war für mich die schonungslose Beschreibung des an Grausamkeit kaum zu überbietenden Abschlachtens der Thunfische und ich bin froh, dass ich wegen der Fangmethoden schon als Jugendliche aufgehört habe, Thunfisch zu essen. Auch wenn die asiatischen Fangschiffe keineswegs besser sind – nachzutrauern vermag ich der traditionellen Tonnara, die im Anhang des Buches mit Hilfe einer Skizze erklärt wird, trotz aller Kunst nicht. Es geht mir damit wie Uwe Timm mit dem Kürschnerei, der in Alle meine Geister zwar wehmütig von dieser inzwischen ausgestorbenen Handwerkskunst erzählt, sie aber trotzdem nicht zurückwünscht.
Nach Zur See von Dörte Hansen im Jahr 2022 ist Mattanza ein weiterer wichtiger Roman über die tiefgreifenden Veränderungen des Insellebens, radikaler noch, aber ebenso lesenswert.
Germana Fabiano: Mattanza. Aus dem Italienischen von Barbara Neeb und Katharina Schmidt. mare 2023
www.mare.de