Die Wahrscheinlichkeit des Zufalls
Seit zehn Jahren hat der namenlose Ich-Erzähler und Schriftsteller der zweiten Garde seine ehemalige Sekretärin nicht mehr gesehen. Luciana, damals eigentlich Angestellte des erfolgreicheren und beneideten Kollegen Kloster, hatten wegen einer Italienreise ihres Arbeitsgebers einen Monat frei und arbeitete vorübergehend für ihn. Für beide Schriftsteller war Luciana eine Idealbesetzung: junge Biologiestudentin im ersten Semester, sehr attraktiv, zuverlässig, unbeschwert und sicher in Orthografie, ein „perfektes Produkt der argentinischen Mittelklasse, eine Tochter aus gutem Hause“ (S. 15). Beide hätten sich ihr gerne genähert, doch als sich Kloster nach ihrer Rückkehr mehr erlaubte, verklagte sie ihn. Damit zerbrach Klosters mühsam aufrechterhaltenes Ehearrangement, was letztlich zum Tod seiner vergötterten vierjährigen Tochter Pauli führte.
Unterschiedliche Versionen einer Geschichte
Völlig überraschend meldet Luciana sich nun beim Ich-Erzähler. Sie ist kaum noch wiederzuerkennen, stark gealtert, all ihrer Reize beraubt und in ständiger Alarmbereitschaft. Die Geschichte, die sie ihm erzählt, kommt ihm zunächst abenteuerlich und wahnhaft vor, doch je länger er ihr widerstrebend zuhört, desto glaubwürdiger erscheint sie ihm. Luciana fühlt sich vom rachsüchtigen Kloster verfolgt und gibt dem inzwischen hochdekorierten Erfolgsautor die Schuld an einer Reihe von tragischen Todesfällen in ihrer nächsten Umgebung. Eine perfide Mordserie, wie er sie für seine Krimis erfindet? Und wer schwebt dann noch in Lebensgefahr?
Luciana ist überzeugend genug, um den Ich-Erzähler zu einer Unterredung mit Kloster zu bewegen. Wie nicht anders zu erwarten, hat der eine ganz andere Version, logische Erklärungen und eigene Hypothesen: Was, wenn es sich um eine rein zufällige Unglücksfolge im Rahmen statistischer Wahrscheinlichkeiten handelte? Wenn Luciana, von Schuldgefühlen getrieben, in einem Akt von Selbstgeißelung in die Todesfälle verstrickt wäre? Oder gibt es gar eine übergeordnete Macht, die Klosters literarische Fantasien, seine Bücher, aus denen „das Böse“ (S. 11) spricht, Wirklichkeit werden lässt?
Ein Wechselbad der Gefühle
Guillermo Martínez, promovierter argentinischer Mathematiker und mit Preisen für seine außergewöhnlichen literarischen Krimis Die Oxford-Morde und Der Fall Alice im Wunderland ausgezeichnet, spielt in Der langsame Tod der Luciana B. mit wechselnden Perspektiven und unterschiedlicher Wahrnehmung. Wie der Ich-Erzähler habe ich mich immer wieder auf eine andere Seite ziehen lassen, Wahrscheinlichkeiten abgewogen und nicht mehr gewusst, wem und was ich glauben kann. Erschwerend kommt hinzu, dass auch der Erzähler mir kein Vertrauen einflößte, verfolgt er doch durchaus eigene Interessen, hat seine Niederlage bei Luciana vor zehn Jahren schlecht verwunden und schwankt in Bezug auf den ungleich erfolgreicheren Kloster zwischen Anerkennung und glühendem Neid.
Absolut nichts ist sicher
Der langsame Tod der Luciana B., im argentinischen Original 2007, dann 2008 erstmals und nun erneut im Eichborn Verlag auf Deutsch erschienen, ist ein raffiniert konstruiertes Verwirrspiel um Wahrheit, Wahn und die Wahrscheinlichkeit von Zufällen. Obwohl einzelne Monologe für meinen Geschmack zu sehr ausufern, ist die Spannung durchgängig hoch.
Wer bereit ist für einen ungewöhnlichen Krimi mit gleichermaßen literarischem wie philosophischem Anspruch, der liegt mit diesem psychologisch ausgefeilten Drei-Personen-Drama richtig. Aber ist es überhaupt ein Krimi? Nicht einmal das kann hier eindeutig beantwortet werden.
Guillermo Martínez: Der langsame Tod der Luciana B. Übersetzung aus dem argentinischen Spanisch von Angelica Ammar. Eichborn 2021
www.luebbe.de/eichborn