Gunnar Gunnarsson: Advent im Hochgebirge

  Der gute Hirte

Wenn ein Fest bevorsteht, machen sich die Menschen dazu bereit, jeder nach seiner Weise. (S. 5)

Benedikt, halb Knecht, halb Kätner, hat seine eigene vorweihnachtliche Tradition. Jahr für Jahr zieht er am ersten Advent ins isländische Hochgebirge und macht sich auf die Suche nach verirrten Schafen, die bei der großen Schafeinsammlung im Herbst dort vergessen wurden. Zum 27. Mal setzt er sein Leben für fremde Schafe aufs Spiel, aus Achtung vor der Kreatur und aus Sorge um diese hilflosen Geschöpfe, denen sonst der sichere Tod droht. Eine Art Jubiläum ist es, denn Benedikt zählt 54 Jahre und hat nun sein halbes Leben diese Tradition gepflegt, die nicht bei allen auf Verständnis stößt.

Auf seinen einsamen Wanderungen durch die menschenfeindliche Gebirgswelt begleiten ihn nur sein Hund Leo und der Leithammel Knorz. Unterwegs kehren sie bei den letzten Höfen ein, lassen sich jedoch von den schlechten Wetterprognosen und dem guten Zureden der Bauern nicht aufhalten. Nichts läuft in diesem Jahr wie geplant: Menschen schließen sich ihnen ungeplant an und bedürfen ihrer Hilfe, der Winter bricht unerwartet früh und heftig herein und der Proviant wird knapp. Das erste Schaf, auf das sie schließlich stoßen, ist tot, und ohne die gute Nase seines Hundes wäre Benedikt vermutlich dieses Mal gar erfroren. Doch Benedikt ist kein Mann der Zweifel:

Dies war sein Leben – hier zu wandern. Und weil nun dies sein Leben geworden war, ist er jetzt für alles gerüstet, für alles, und kann es willkommen heißen. Er hat keine Sorgen mehr – doch eine: er kann sich nicht recht denken, wer nach ihm hier wandern wird. Doch irgendjemand wird wohl kommen. (S. 57)

Originalsprache dänisch
Gunnar Gunnarsson (1889 – 1975) gilt neben dem alles überstrahlenden Literaturnobelpreisträger von 1955 Halldór Laxness (1902 – 1998) als zweiter großer isländischer Autor des 20. Jahrhunderts und war selbst mehrfach für diese höchste Auszeichnung vorgeschlagen. Als armer Bauernsohn ging er im Alter von 18 Jahren nach Dänemark und besuchte dort für zwei Jahre die Volkshochschule. Wegen der größeren Reichweite schrieb er fast alle seine Werke zunächst auf Dänisch, darunter auch die Novelle Advent im Hochgebirge, die 1936, übersetzt von Helmut de Boor, zuerst auf Deutsch, dann 1937 auf Dänisch erschien und erst 1939 ins Isländische übertragen wurde.

Eine stimmungsvolle Vorweihnachtsleküre
Von Jón Kalman Stefánsson, heute einer der bekanntesten Autoren Islands, stammt das 17-seitige informative und persönliche Nachwort zu dieser im kleinen Format nur 80 Seiten umfassenden Erzählung, die auf einer wahren Geschichte beruht. Die unspektakuläre Handlung über eine menschlich-tierische „Dreieinigkeit“ im Kampf gegen die übermächtigen Naturgewalten gefiel mir vor allem wegen ihrer Schlichtheit. Der bisweilen leicht pathetisch-frömmelnde Stil störte mich dagegen in diesem Fall nicht, im Gegenteil empfand ich die Novelle als ebenso herzerwärmend wie ergreifend. Ich verstehe deshalb Jón Kalman Stefánsson  gut, der das Büchlein seit vielen Jahren zu jedem Weihnachtsfest mit großer Freude wieder liest. Die Idee zu dieser Vorweihnachtslektüre verdanke ich übrigens dem Wahl-Isländer und Autor Joachim B. Schmidt, der Advent im Hochgebirge ebenfalls wärmstens empfiehlt.

Gunnar Gunnarsson: Advent im Hochgebirge. Übertragung von Helmut de Boor. Reclam 2017
www.reclam.de

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert