Vier Generationen
Mit den verschiedenen Zeitebenen, vielen Personen und Perspektiven sowie wechselnden Orten war der Einstieg in das Hörbuch In Zeiten des abnehmenden Lichts nicht einfach. Auch wenn sich das anfängliche Chaos dank der vorangestellten Jahreszahlen und Daten im Laufe der ersten beiden CDs wohltuend sortierte, ist dies keine Lesung für nebenbei, sondern erfordert volle Aufmerksamkeit. Mit dem Durchdringen der Zusammenhänge hat das Zuhören zunehmend Spaß gemacht, allerdings nicht bei allen Handlungssträngen gleichermaßen.
Eine Familie im abnehmenden Licht des Sozialismus
Sechs der Abschnitte dieser rund 50 Jahre umfassenden DDR-Familiengeschichte betreffen den dramaturgischen Höhepunkt 1. Oktober 1989, an dem der Familienpatriarch seinen 90. (und letzten) Geburtstag begeht. Wilhelm Powileit, ursprünglich Schlosser und aus Hamburg, war Kommunist der ersten Stunde und blieb bis zu seinem Tod Stalinist, war zeitlebens dumm, stur und herrschsüchtig und zuletzt hochdekoriert, dement und lächerlich. Kommunisten wie er ebneten in den 1920er-Jahren den Nationalsozialisten durch ihren Kampf gegen die Sozialdemokraten den Weg. Seine ungleich klügere, oft von ihm genervte Frau Charlotte fand durch ihn zum Kommunismus, den sie als Befreiung und Möglichkeit zum Einsatz ihrer Talente erlebte. Ende der 1930er-Jahre hatten sie das Deutsche Reich verlassen und erst 1952 die ersehnte Rückreisegenehmigung von Mexiko in die DDR erhalten, wo sie Parteikarriere machten. Charlottes Söhne Werner und Kurt Umnitzer waren ab Mitte der 1930er-Jahre in der Sowjetunion und fielen unter Stalin in Ungnade. Werner überlebte das Lager nicht, Kurt kam 1956 nach traumatisierenden Jahren im Lager und in der Verbannung mit seiner russischen Frau Irina nach Neuendorf, wo seine Eltern lebten, promovierte als Historiker und verfasste Bücher zur Arbeiterbewegung. Sein Verhältnis zum Kommunismus war bereits distanzierter, er hoffte auf die Reformierbarkeit des Sozialismus und träumte von mehr Demokratie. Sein Sohn Alexander, genannt Sascha, fand weder bei seinem verhassten Vater noch bei der alkoholabhängigen Mutter Halt, zeigte seine kritische Einstellung zum DDR-Staat immer offener, wechselte die Frauen wie die Hemden, brach das Studium ab. An Wilhelms 90. Geburtstag floh er in den Westen. Er leidet unter einer unerfüllten schmerzhaften Sehnsucht und dem Gefühl, immer betrogen worden zu sein, nie irgendwo dazugehört zu haben. Ähnlich ergeht es Markus, der Sohn, den Markus früh im Stich gelassen hat, vierte und jüngste Generation der Familie, politisch desinteressiert, ziel- und kraftlos.
Die für mich interessanteste Nebenfigur ist Irinas Mutter Nadjeshda Iwanowna, die 1976 nach Neuendorf übersiedelt, aus Heimweh jedoch nach Slawa zurückkehrt. Ihr Schicksal böte Stoff für einen eigenen Roman, den ich sehr gerne lesen oder hören würde.
Schwächer und zu stark gewichtet sind dagegen die fünf Abschnitte über Sascha im Jahr 2001. Nach seiner Krebsdiagnose nimmt er Geld aus dem Wandtresor seines dementen Vaters und reist auf den Spuren Charlottes und Wilhelms nach Mexiko.
Ein guter Roman hervorragend gelesen
Eugen Ruge, geboren 1954 im Ural erhielt für diesen späten, stark autobiografisch geprägten Roman 2011 zurecht den Deutschen Buchpreis. Überragend ist bei dieser ungekürzten, gut zwölf Stunden umfassenden Lesung auf zehn CDs mit leider sehr langen Tracks wie immer der Sprecher Ulrich Noethen. Mit großem Gespür für die Dramaturgie des Romans liest er meist ruhig, langsam und mit gekonnten Pausen zur Spannungssteigerung, wird aber auch laut und schnell, imitiert gekonnt Dialekte und Akzente und bringt vor allem den subtilen Humor sehr gekonnt zur Geltung.
Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts. Gelesen von Ulrich Noethen. Argon 2011
www.argon-verlag.de
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