Irmgard Keun: Kind aller Länder

  Heimatlosigkeit aus Kindersicht

Als Irmgard Keun (1905 – 1982) den Roman Kind aller Länder 1938 in einem Amsterdamer Exilverlag veröffentlichte, lebte sie bereits seit 1935 in der Emigration und ihre zweijährige Beziehung mit Joseph Roth (1894 – 1939) war soeben beendet. Im Deutschen Reich war sie, vor allem wegen ihres 1932 erschienenen Romans Das kunstseidene Mädchen, sehr bekannt, doch wurden ihre Bücher von den Nazis verbrannt. 1940 kehrte sie unter falschem Namen nach Köln zurück. Nach 1945 konnte sie nicht mehr an ihre Erfolge anknüpfen, erst kurz vor ihrem Tod wurde sie wiederentdeckt. Reclams Romanführer in vier Bänden von 1981 verzeichnet sie nicht, die 24-bändige Studienausgabe des Brockhaus von 2001 widmet ihr immerhin einen kleinen Artikel mit Bild, allerdings ohne Erwähnung von Kind aller Länder.

Eine liebenswerte Erzählerin
Genau wie Irmgard Keun lebt die zehnjährige Protagonistin und Ich-Erzählerin Kully im Exil, zusammen mit ihren Eltern. Der Vater ist Schriftsteller und Journalist mit Publikationsverbot im Deutschen Reich. Zwischen 1936 und 1938 zieht die Familie rastlos durch Europa und bis New York, getrieben von ablaufenden Visen und Geldnöten, wohnt überwiegend in vornehmen Hotels in Brüssel, Prag, Ostende, Amsterdam, Lemberg, Wien, Salzburg, Brügge und Nizza, die sie selten bezahlen können. Während Kully einen Verlust der zeitlichen Orientierung beklagt, wurde mir beim Zuhören schwindelig vor Orten.

Mit Neugier und Offenheit beobachtet das aufgeweckte Mädchen die Erwachsenen: den charmanten, leichtsinnigen Vater mit Hang zu Alkohol, Spiel und Frauen, die sich nach Häuslichkeit sehnende, zunehmend verzagende Mutter, andere Heimatlose, potentielle Geldgeber oder Hotelangestellte. Viel zu gut weiß sie Bescheid über Wechselkurse, Visa, Pässe, Konsulate, Ländergrenzen und Hunger, den Begriff Heimweh kennt sie dagegen nicht. Was sie sieht und hört, beflügelt ihre Gedanken und lässt sie Erklärungen zusammenbasteln:

Ein Pass ist ein kleines Heft mit Stempeln und der Beweis, dass man lebt. Wenn man den Pass verliert, ist man für die Welt gestorben. Man darf dann in kein Land mehr. Aus einem Land muss man raus, aber in das andere darf man nicht rein.

Einziger Halt sind ihre Eltern, die liebevoll-besorgte Mutter und der unzuverlässige, jedoch heißgeliebte Vater. Sorgen bereiten ihr die Gefahr des eigenen Verlorengehens und der mögliche Verlust des Vaters:

Meine Mutter und ich sind meinem Vater eine Last. Aber da er uns nun mal hat, will er uns auch behalten.

Leider zeitlos aktuell
Irmgard Keun porträtiert in Kind aller Länder die ihr wohlvertraute Exilszene aus Kindersicht:

Aber wir sind Emigranten, und für Emigranten sind alle Länder gefährlich, viele Minister halten Reden gegen uns und niemand will uns haben, dabei tun wir gar nichts Böses und sind genau wie alle anderen Menschen.

Ungekünstelt lässt sie Kully Episoden ihrer Fluchtodyssee erzählen und trifft die schwierige Kinderperspektive fast durchweg gut. Angesichts von Millionen von Flüchtenden weltweit ist der Roman leider heute ebenso brandaktuell wie 1938 und eignet sich daher bestens als Schullektüre für die Mittelstufe.

Hören oder lesen?
Fünf Stunden auf vier CDs umfasst die ungekürzte Lesung einschließlich eines interessanten Interviews mit Volker Weidermann, Autor von Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft. Von ihm stammt auch der Aufsatz im achtseitige Booklet.

Die 1980 geborene Schauspielerin Jodie Ahlborn ist die Idealbesetzung für die Lesung. Mit kindlicher Stimme bringt sie das Staunen, den Witz, die Ängste und den Überlebenswillen von Kully ausgezeichnet zum Ausdruck. Trotzdem würde ich beim nächsten Mal das Buch bevorzugen, zur leichteren Orientierung und weil die Kinderstimme auf Dauer anstrengt.

Irmgard Keun: Kind aller Länder. Lesung mit Jodie Ahlborn. DAV 2016
www.der-audio-verlag.de

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