Isabelle Autissier: Klara vergessen

  Nur ein Sandkorn

Isabelle Autissiers Klara vergessen ist neben Pascal Merciers Das Gewicht der Worte die Neuerscheinung, auf die ich mich in diesem Frühjahr besonders gefreut habe. Nach Herz auf Eis, einem absoluten Lieblingsbuch, waren meine Erwartungen hoch und wurden erfüllt. Zwar ist der Roman ganz anders ist als sein Vorgänger, doch geht es wieder um existentielle Bedrohungen und darum, wozu Menschen angesichts solcher fähig sind.

Eine Rückkehr wider Willen
Der Roman nimmt uns mit in den Norden Russlands von der Stalinzeit bis zu Gorbatschows Perestroika und spannt einen Bogen über drei Generationen der Familie Bondarew: die Großmutter Klara, ihren 1945 geborenen Sohn Rubin sowie den Enkel Juri, der zu Beginn 46 Jahre alt. Vor 23 Jahren ist er vor der Familie in die USA geflohen und hat sich ein Leben als renommierter Professor für Ornithologie in Ithaka, N.Y. aufgebaut. Auf den dringenden Wunsch seines verhassten Vaters kehrt er nun an dessen Sterbebett nach Murmansk zurück. Juri soll vollbringen, was Rubin aus Feigheit nie gewagt hat: die Wahrheit über das Verschwinden von Klara ans Licht bringen, die als Abteilungsleiterin des Labors für angewandte Geologie und Mineralogie in Murmansk vor den Augen von Mann und Sohn 1950 im Zuge der Massendeportationen von Stalins Schergen verhaftet wurde und wie so viele andere verschwand.

Nur kurz ist Juri versucht, den Wunsch des Vaters zurückzuweisen:

Rubin hatte ihn ein letztes Mal in eine Falle gelockt. Obwohl er unausstehlich und gewalttätig war, war er nun das Opfer, dem man helfen musste. Juri wappnete sich innerlich, um den Vorschlag abzulehnen, den er kommen sah. Doch da war Klara, seine Großmutter, und diese Geschichte, die er nie wieder aus dem Kopf bekommen würde, ein winziges Steinchen im großen historischen Zusammenhang, aber der Grundstein seiner eigenen Familiengeschichte, ein Name in der Liste der Opfer, aber der Name, den er selbst trug. (S. 34/35)

Wege in die Freiheit
Es ist eine emotional aufgeladene Erzählung. Klaras Verhaftung war das „Sandkorn“, welches das Leben mehrerer Generationen außer Kontrolle geraten ließ und aus Rubin nicht nur den Sohn einer Volksverräterin, sondern auch einen brutalen Mann und Vater machte. Kompromisslos konsequent verfolgen alle drei Protagonisten unterschiedliche Wege in die Freiheit: Juri als Ornithologe, Rubin als Kapitän eines sowjetischen Fischtrawlers auf dem Meer und Klara mit der Wissenschaft, der sie allerdings auch die Gefangenschaft verdankt.

Das Besondere dieses Romans
Neben der überaus spannenden Handlung, den dichten Charakteren, dem Blick in die russische Geschichte des 20. Jahrhunderts und auf die Umweltfrevel in Nordrussland ist es noch etwas anderes, was die Weltumseglerin und Vorsitzende des französischen WWF Isabelle Autissier für mich zu einer so herausragenden Autorin macht. Ihre Beschreibungen des Meeres, der Tundra oder der Lebensweise der Nenzen, indigener Rentiernomaden, sind einzigartig und wunderbar übersetzt von Kirsten Gleinig. Aber auch ihre Fähigkeit, einerseits von unvorstellbarer Brutalität auf dem Fischtrawler, bei den Verhören oder in Juris Familie, andererseits mit großer Zartheit vom Erwachen der Liebe Juris zu einem Ferienbetreuer zu erzählen, ist großartig.

Nicht nur für mich als begeisterte Leserin, auch für Juri hat sich der schmerzliche Ausflug in die Vergangenheit gelohnt:

Am Ende der Suche nach seiner Großmutter stand die Rückkehr zu ihm selbst. (S. 302)

Isabelle Autissier: Klara vergessen. Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig. mare 2020
www.mare.de

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