Jenny Erpenbeck: Kairos

  Doppeltes Requiem

 

 

Am 11. Juli 1986 begegnen sich die 19-jährige Katharina, Setzerlehrling, und der 53-jährige Schriftsteller Hans W. in einem Bus in Ostberlin zum ersten Mal:

 

Die Türen schlossen sich wieder, der Bus fuhr an, sie suchte nach einem Haltegriff.
Und da sah sie ihn.
Und er sah sie.
Draußen ging eine wahre Sintflut hernieder, drinnen dampfte es von den feuchten Kleidern der Zugestiegenen. (S. 16)

Noch am gleichen Abend nimmt er sie mit in seine Wohnung, weder seine Frau noch sein 14-jähriger Sohn sind zuhause. Sie hören Mozarts Requiem und landen im Ehebett:

Nie wieder wird es so sein wie heute, denkt Hans. So wird es nun sein für immer, denkt Katharina. (S. 29)

Ob Kairos, der Gott des glücklichen Augenblicks, für diese schicksalhafte Begegnung verantwortlich war, fragt sich Katharina, als sie viele Jahre später, nach Hans‘ Tod, die beiden Kartons mit Erinnerungsstücken auspackt.

© B. Busch

Der erste Karton…
… enthält Andenken aus den ersten 14 Monaten der Beziehung, Licht und Schatten gleichermaßen. Es ist eine Zeit, während der Katharina „immer weiter fortgerissen“ wird, in der sie entdeckt, „dass sie so lieben kann“, sie Hans beim Familienurlaub an der Ostsee beobachtet und sich ein gemeinsames Kind vorstellen kann. Sie genießt es, von ihm ausgeführt zu werden, bewundert ihn für seine Bildung und akzeptiert seine Machtdemonstrationen mittels sadomasochistischer Praktiken. Erstaunlich zurückhaltend vorgebrachte Bedenken ihrer Eltern und Warnungen ihrer Freunde ignoriert sie:

Seit du mit diesem Hans zusammen bist, hast du irgendwie dein Strahlen verloren. (S. 134)

Hans ging als Student bewusst in den Osten, weil er, desillusioniert von der Rückkehr alter Nazis auf alte Posten, alle Hoffnungen auf die antifaschistische DDR setzte. Nun idealisiert er Katharina ebenso wie damals den Staat und stilisiert sie zu einer Heiligen. Wie die kommunistische Regierung auf Widerstand mit immer drastischerer Unterdrückung antwortete, reagiert auch Hans, der nie seine Ehe für Katharina aufs Spiel setzten würde, auf das, was er für ihren Verrat hält.

Der zweite Karton…
… legt Zeugnis von Hans‘ Terror und Machtgehabe als Reaktion auf Katharinas „Treuebruch“ ab: Verhöre, Überwachung, Gehirnwäsche, Vorwürfe:

Für mich ist dein Betrug die größte und einschneidendste Niederlage meines Lebens. (S. 272)

… dass du dich so erniedrigen konntest, dass du dich so klein gemacht hast – das hat dich in meinen Augen entschieden wertgemindert. (S. 312)

Bis 1992 und über die Wende hinaus zieht sich die toxische Beziehung hin. Kein Tiefpunkt beider parallel verlaufender Ereignisse bleibt ausgespart.

Die Ostperspektive macht’s
Kairos ist zweifellos ein bedeutendes Stück zeitgenössisch-deutscher Literatur, sprachlich eine Wonne und mit einer Fülle von Anspielungen auf Theater, Musik, Kunst und die DDR-Künstlerszene, von denen ich gewiss nur einen Teil erfasst habe. Was fehlt, ist eine gewisse Leichtigkeit, jedes Wort wirkt bedeutungsschwer und bisweilen gar pathetisch. Probleme hatte ich mit der Glaubwürdigkeit der Beziehung, an der Katharina unbegreiflicherweise  festhält, als sie zum Praktikum nach Frankfurt an der Oder geht und später in Ostberlin Bühnenbild studiert. Auch die Wendung im Epilog hätte es für mich nicht gebraucht. Einen wirklichen Erkenntnisgewinn brachte mir jedoch der spezielle Blick der wie ihre Protagonistin 1967 in Ostberlin geborenen Jenny Erpenbeck auf die Vorwende-, Wende- und Nachwendezeit. Dafür alleine schon lohnt die Lektüre.

Zwei Romane, die aus Ostperspektive von der Wendezeit erzählen. © B. Busch


Jenny Erpenbeck: Kairos. Penguin 2021

www.penguinrandomhouse.de

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