Auf Sinnsuche im Wilden Westen
Ein literarisches Highlight des Jahres 2013 war für mich der College- und Eheroman Stoner des US-Amerikaners John Williams (1922 – 1994). Ursprünglich in den USA 1965 als dritter seiner vier Romane erschienen, wurde er mit 48 Jahren Verspätung in Deutschland veröffentlicht und zum Überraschungsbestseller.
2015 zog dtv mit Butcher’s Crossing, seinem zweiten Roman aus dem Jahr 1960, nach. Da ein Western mir weniger verlockend erschien, blieb das Buch zunächst ungelesen liegen – ganz zu Unrecht, wie ich nun weiß, obwohl mich „Stoner“ insgesamt doch noch mehr begeistert hat.
Der Protagonist Will Andrews stammt im Gegensatz zum Farmersohn Stoner aus dem bürgerlichen Milieu Bostons, sein Vater ist Prediger. Andrews gibt 1873 sein Harvard-Studium im dritten Studienjahr auf und reist nach Kansas ins trostlose Präriestädtchen Butcher’s Crossing, das von Büffelfellen und der Hoffnung auf den Bau der Eisenbahn lebt. Antriebsfeder für ihn ist die Abenteuerlust, seine Sehnsucht nach Wildheit, nach Natur und Freiheit, und der Wunsch, sich auf diese Weise selbst zu finden. Weder die Warnungen des alten Fellhändlers, noch die der mütterlich-freundlichen Hure Francine, der einzigen Frauenfigur des Romans, die den Verlust seiner weichen Hände prophezeit, können ihn davon abhalten, mehr als die Hälfte seines Vermögens in einen eigenen Büffeljägertrupp zu stecken. Mit dem erfahrenen Jäger Miller als Führer, dem schrulligen Charley Hoge, einem etwas debilen bibeltreuen Alkoholiker, der Miller treu ergeben ist, und dem professionellen Häuter Fred Schneider bricht der vierköpfige Trupp auf zu einem der letzten Täler, in dem es laut Miller noch eine nennenswerte Anzahl von Büffeln geben soll. Auf dem Weg Richtung Westen droht ihnen und ihren Pferden und Ochsen der Tod durch Verdursten, doch unbeirrt und mit traumwandlerischer Sicherheit führt Miller sie in das Tal. Kaum angekommen, verfällt er in einen manischen Blut- und Jagdrausch. Längst ist die Zahl der Felle für eine erfolgreiche Jagd erreicht und der Wintereinbruch droht, doch Miller will nicht aufhören, bevor nicht die ganze Herde erlegt ist. So werden sie vom ersten Schneesturm überrascht und dazu gezwungen, weitere sieben Monate auszuharren. Erst Ende Mai kommt der geschrumpfte Trupp wieder in Butcher’s Crossing an, wo nichts mehr so ist, wie es bei ihrem Aufbruch war – eine bittere Erfahrung, die die ganze Unternehmung, das Abschlachten sowie ihre Entbehrungen und Verluste, im Nachhinein doppelt sinnlos macht.
Man muss kein Westernfan sein, um dieses Buch zu mögen, aber man muss viel ertragen an Blut, Dreck und Gestank. Auch die überwältigenden Naturschilderungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Expedition einzig der Vernichtung eben dieser Natur gilt zu einer Zeit, in der das Wort Nachhaltigkeit noch nicht existierte. Beeindruckt hat mich auch Williams‘ Beschreibung der zwischenmenschlichen Beziehungen unter den Männern und der allmählichen Veränderung Wills, auch wenn mir vor allem dessen Beweggründe sehr fremd geblieben sind.
Ob Will Andrews gefunden hat, was er suchte? Seine Hände jedenfalls sind tatsächlich nicht mehr weich, als er schließlich wieder bei Francine ankommt, und als er Butcher’s Crossing verlässt, weiß er nicht, wohin er reitet.
John Williams: Butcher’s Crossing. dtv 2015
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