Quälend vulgär
Geografisch betrachtet sind meine letzten beiden Lektüren Nachbarn: Schilf im Wind von Grazia Deledda spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf Sardinien, der aktuelle Roman Ich, Antoine von Julie Estève auf Korsika. Zum Klassiker, der ein Porträt einer archaischen Inselgesellschaft mit vielen Naturschilderungen und kulturellen Eigenheiten in einer lyrischen Sprache zeichnet, ist der Korsika-Roman jedoch ein völliges Kontrastprogramm.
Ein geborener Sündenbock
Ich, Antoine ist die von ihm selbst 2016 erzählte Lebensgeschichte des geistig behinderten Anti-Helden Antoine Orsini. Er lebt in einem korsischen Dorf im bergigen Hinterland von Ajaccio, wo er für alle nur der „Dorftrottel“, das „Drecksungeheuer“, der verlauste, stinkende „Spasti“ ist, von Kindheit an Opfer von Spott, Häme und brutalen Gemeinheiten, der geborene Sündenbock. Die Mutter starb bei seiner Geburt, sein cholerischer Vater, ein arbeitsloser Trinker, hasst und verprügelt ihn von Beginn an:
Mein Papa war gleich stinksauer auf mich. Hat gemeint, dass ich n Mörder bin, er hätt mich mitm Kopfkissen ersticken sollen. Hab schon als Baby wie n Dorftrottel ausgeschaut, mein Kopf war schlicht überdimensional. Papa hat gesagt, es is ne ganz schöne Strafe, wenn man so nen hässlichen Schwachkopf wie mich hat. (S. 91)
Auch sein Bruder Pierre, ein korsischer Aktivist, lastet ihm den Tod der Mutter an, seine Schwester Tomasine verlässt die Familie Richtung Paris. Lediglich eine früh verstorbene Lehrerin kümmerte sich zeitweise liebevoll um ihn.
So hat er keinen Fürsprecher, als 1987 die 16-jährige Dorfschönheit Florence tot im Wald liegt. 15 Jahre muss er dafür ins Gefängnis, obwohl er stets seine Unschuld beteuert.
Einfach nicht mein Buch
Manchmal passen Leserin oder Leser und Buch nicht zusammen, so wie bedauerlicherweise in diesem Fall. Zwar ist die Form des unsortierten Monologs gelungen und hat bei Kalmann von Joachim B. Schmidt mit einem ebenfalls geistig behinderten Ich-Erzähler gut funktioniert, aber die verstümmelte, derbe, mit Vulgärausdrücken durchsetzte Sprache Antoines, die eine in meinen Augen verunglückte Authentizität vortäuschen soll, war mir eine Qual:
Gleich nach der engen Kurve, da fängt das Dorf an.
Meine Heimat!
Bei dem Gedanken daran könnt ich gleichzeitig kotzen und scheißen. Irgendwann zünd ichs an, das Dorf, dann is es endlich weg. (S. 39/40)
Und selbst wenn ich die Sprache als passend empfunden hätte: Genauso wenig, wie ich mir milieuauthentische Talkshows im Privatfernsehen ansehe, möchte ich Texte in Gossensprache lesen. Außerdem ist die Mischung aus detailgenauem Gedächtnis, fraglicher Zuverlässigkeit, seherischen Fähigkeiten, kindlicher Naivität, Gedankenspielen zum Vietnamkrieg, zu Tschernobyl oder Sauerstoffschocks und Formulierungen wie „ausgeklügelter Plan“ schlicht nicht stimmig. Hätte ich das Buch nicht im Rahmen einer Leserunde gelesen, ich hätte es schnell weggelegt, obwohl man kaum drei Stunden dafür braucht. Dabei ist die Grundidee gut und hätte mir – mit einem auktorialen oder personalen Erzähler wie in der Rahmenhandlung nach Antoines Tod, mit mehr Lokalkolorit und weniger schablonenhaften Charakteren – durchaus gefallen können. So blieb mir der emotions- und empathiearme, unsympathische Protagonist, dessen mit über 60 Jahren vor einem kaputten Plastikstuhl abgelegte Lebensbeichte eigentlich Mitleid hätte hervorrufen müssen, genauso fremd wie die gesamte düstere, engstirnige Dorfgesellschaft. Wer für den Tod von Florence verantwortlich war, trat daher zunehmend in den Hintergrund, es war mir im Grunde schlicht egal.
Julie Estève: Ich, Antoine. Aus dem Französischen von Christian Kolb. dtv 2021
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