Lidia Ravera: Sprich mit mir

  Korrekturen

Ich bin eine alte Frau und an Einsamkeit gewöhnt.
Ich trinke viel.
Gelegentlich nehme ich Psychopharmaka.
Ich habe neun Jahre im Gefängnis gesessen. (S. 86)

Abgeschottet lebt die 66-jährige Ich-Erzählerin Giovanna Reggiani als Einsiedlerin in ihrer Eigentumswohnung mit Tiber-Blick in einem besseren Viertel Roms, die sie im Jahr 2000 mit dem Erbe ihrer Eltern als Rückzugsort gekauft hat. Allmorgendliche Spaziergänge, Stippvisiten im Supermarkt, eine nach seelischen Zuständen geordnete Plattensammlung und ihre Bücher bilden die einzige Abwechslung. Der letzte Haarschnitt liegt 26 Jahre zurück, ihren Körper nimmt Giovanna kaum noch wahr.

Wahrscheinlich wäre ihr Leben bis zum Ende so weitergegangen, hätte nicht im Sommer 2018 eine vierköpfige Familie die leerstehende Nachbarwohnung bezogen. Der 37-jährige Michele, ein mäßig erfolgreicher Musiker, seine hübsche Frau Maria, die gemeinsame dreijährige Tochter Malvina und Malcolm, Micheles 13-jähriger Sohn aus erster Ehe und Klimaaktivist, fachen nach langer Isolation Giovannas Neugier an:

Die Wahrheit ist, dass ich angefangen hatte, den Geräuschen hinter der Wand zuzuhören. Mit einer Neugier, die von Stunde zu Stunde gieriger wurde. (S. 30)

© B. Busch

Aus dem Schatten ans Licht
Zuerst lauscht sie nur an der Rigipswand und späht durch den Türspion, dann sorgt ein Missgeschick Malcolms für direkten Kontakt und schließlich wird Giovanna, die sie „Weißmähne“ nennen, zur ehrenamtlichen Kinderfrau. Obwohl ihre innere Stimme sie warnt, wird aus der anfänglichen Rolle als stumm-bewunderndes Theaterpublikum die eines unverzichtbaren Rädchens im Familiengetriebe. Doch gerade die zunehmende Vertrautheit und Liebe zu den Kindern lassen ihre unverarbeiteten Erinnerungen und Entbehrungen schmerzhaft neu erstehen:

Monatelang war die Nachbarschaft mit dieser jüngeren, ganz aus Kindern bestehenden Familie für mich das Vorbild eines Glücks, das ich nicht aufbauen konnte, als ich im richtigen Alter war. (S. 119)

Und noch eine Gefahr zieht herauf: Je weiter Giovanna ihre Fühler aus ihrem Schneckenhaus streckt, desto nackter und verletzlicher wird sie. Lässt sich die schambehaftete Vergangenheit dauerhaft schützen, während immer größere Nähe entsteht, nicht nur zur Familie nebenan, sondern auch zu Marias charmantem Vater Pietro, der unverholenes Interesse an ihr zeigt?

Im Sommer 2019, ein Jahr nach dem Einzug der Familie, beginnt Giovanni, die nach eigenem Bekunden nicht gerne schreibt, ein „rückläufiges Tagebuch“ (S. 10), einen Bericht über das Wendejahr und die sich anbahnende Katastrophe. Eingewoben sind Bruchstücke aus ihrer Vergangenheit, der politischen wie der privaten, die sich allmählich zu einem Gesamtbild verdichten. Wie Giovanna das Leben der Nachbarsfamilie ausspioniert, habe ich Puzzlesteine über ihr Leben gesammelt und zusammengesetzt, immer neugieriger auf ihr Geheimnis.

Steigende Spannung
Es hat ein wenig gedauert, bis mich der Roman Sprich mit mir in Bann gezogen hat, aber schließlich haben das zunehmende Tempo und die ansteigende Dramatik ab dem zweiten Drittel dafür gesorgt, dass ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte. Die 1951 in Turin geborene Autorin, Journalistin und Feministin Lidia Ravera hat den Roman äußerst raffiniert aufgebaut und lässt ihre geheimisvolle Protagonistin so viele kluge Gedanken und stimmige Bilder notieren, dass ich gedanklich stets mit dem Textmarker gelesen habe. Die Frage, ob sich ein durch Fehlentscheidungen verpfuschtes Leben spät korrigiert lässt sowie die Verbindung aus Einzelschicksal und neuerer italienischer Geschichte machen Lidia Raveras italienischen Bestseller auch für das deutsche Publikum zu einer sehr empfehlenswerten Entdeckung.

Lidia Ravera: Sprich mit mir. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Rowohlt 2023
www.rowohlt.de

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