Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen
Im angesagten Villenviertel Kaltsee, keine 15 Autominuten vom Zentrum der Hauptstadt (Helsinki?), wird im Februar 2008 die 18-jährige Sascha Anchar aus einer privaten sozialpädagogischen Jugendeinrichtung Opfer einer Gruppenvergewaltigung mit anschließender Freiheitsberaubung. Täter sind vier Gleichaltrige aus dem privilegierten Viertel, verniedlichend auch „die Boys“ genannt. Motiv für die vom Haupttäter Nathan Häggert geplante Tat ist Rache wegen Zurückweisung:
Toy girl. Eine Puppe, die kaputtgegangen war. Alle Löcher und Öffnungen des Körpers mehr oder minder zerfetzt. (S. 194)
Im Mittelpunkt des Romans Wer hat Bambi getötet? der 1961 geborenen Finnlandschwedin Monika Fagerholm, für den sie den Großen Preis des Nordischen Rats 2020 erhielt, steht jedoch mit Gusten Grippen ein Täter, während Sascha größtenteils eine Leerstelle bleibt. Er hat das Opfer damals befreit, das Verbrechen gegen ihren Willen angezeigt und sich davon Erlösung von seinen Schuldgefühlen erhofft. Viel lieber hätte man im Villenviertel den Mantel des Schweigens über das Verbrechen gelegt und Saschas Mutter, eine in Kalifornien lebende Jetsetkönigin und Charity-Lady, großzügig finanziell abgefunden:
Wir hätten das doch klären können, between us, und wie man hört, war das schon auf einem guten Weg. (S. 182)
Als es doch zur Gerichtsverhandlung kommt, mit Staranwalt, Promitherapeut und skandalös mildem Urteil, reagiert Nathans Mutter Annelise Häggert, eine Top-Karrierefrau und operative Leiterin eines neoliberalen Think Tanks, mit den Worten des schwedischen Königs Carl Gustav nach seinem Sexskandal:
Jetzt blättern wir die Seite um, und eines schönen Tages werden wir so viele Seiten umgeblättert haben, dass nichts von alldem passiert ist. (S. 137)
2014, gute sechs Jahre nach der Tat, plant der ehemals gemobbte Mitschüler und jetzige Filmproduzent Cosmo Brant eine Verfilmung der Tat unter dem Titel Wer hat Bambi getötet?.
Nur Verlierer
Nach dem milden Urteil hätte alles wieder so werden sollen, wie es war. Stattdessen sind Familien auseinandergefallen, wurden Karrieren nicht gestartet oder brutal abgebrochen, sind Menschen gestorben und die stolze Villa der Häggerts heruntergekommen. Auch der „Judas“ Gusten hat nie wieder Fuß gefasst, war in der Psychiatrie, leidet unter Schuldgefühlen und dem Verlust seiner große Liebe Emmy, die ihn verlassen hat. Mit deren Freundin Saga-Lill versucht er sich zu trösten.
Nicht mein Erzählstil
Zwar haben mir die schnellen Schnitte, Zeitsprünge und wechselnden Perspektiven gefallen und ich bewundere aufrichtig, wie Antje Rávik Strubel die komplizierte Übersetzungsarbeit gemeistert hat. Der fragmentierte Erzählstil mit unter anderem englischen Einschüben, verkürzten Sätzen, Kursivschrift, Großbuchstaben, Einrückungen und – für mich besonders störend – vielen Klammern, war mir aber definitiv zu dominant und leider habe ich keinen Zugang zum in den Feuilletons vielgepriesenen „punkigen“ Rhythmus des Romans gefunden. Am Themenpanorama liegt es jedenfalls nicht, dass ich mich beim Lesen schwergetan habe. Missbrauch und Gewalt, Rache, Schuld und Scham, Verdrängung und Verleugnung, Gruppendynamik und Gruppenzwang, Klassengesellschaft, Frauenfreundschaft und weibliche Konkurrenz, die Metoo-Debatte (finnlandschwedisch: #dammenbrister) und die Hintergründe einer solchen Tat sind großartige Romansujets – nur hätte ich eine andere Erzählweise vorgezogen.
Sehr empfehlenswert sind Interviews mit der Autorin und die begeisterten Diskussionen über den Roman, die man im Netz hören und nachlesen kann.
Monika Fagerholm: Wer hat Bambi getötet? Aus dem Schwedischen übersetzt von Antje Rávik Strubel. Residenz 2022
www.residenzverlag.com
Weitere Rezension zu einem Roman, der mit dem Großen Preis des Nordischen Rates ausgezeichnet wurde: