Ein außergewöhnliches Debüt
Wer in diesem Literaturfrühling 2022 einen außergewöhnlichen Roman lesen möchte, dem empfehle ich das Debüt Skabelon der 1985 geborenen Norwegerin Malin C.M. Rønning. Das Buch war zurecht 2020 für den renommierten Tarjei-Vesaas-Debütatenpreis der norwegischen Autorenvereinigung für den besten literarischen Erstling Norwegens nominiert.
Auf sich gestellt
Skabelon ist der Bericht eines jungen Mädchens über ihre Kindheit von ihrem sechsten bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr zwischen 1990 und 2003. Ihr aus der nordischen Mythologie stammender Name Urd wird nur auf dem Buchrücken genannt und besteht, wie die Namen ihrer sieben Geschwister, aus drei Buchstaben. Urd ist das fünfte Kind in der Reihe, die Familie lebt in einem kleinen roten Haus tief im Wald, von wo aus die Kinder fünf Kilometer zum Schulbus laufen müssen. Die Mutter schläft im Wohnzimmer, die Geschwister in den beiden Räumen im Obergeschoss auf dem Boden und der Vater lebt, wenn er nicht als Holzarbeiter unterwegs ist, in einem umgebauten Bus auf dem Hof. Das Verhalten der Mutter ihren Kindern gegenüber ist vollkommen indifferent, fast schon apathisch. Ursächlich dafür scheint ihre eigene schwierige Kindheit zu sein, vielleicht sogar Missbrauch durch den Vater. Sie liegt auf dem Sofa, raucht ununterbrochen, löst Kreuzworträtsel oder nimmt ausführliche Bäder. Die vernachlässigten Kinder sind auf sich gestellt, es gibt nicht genug zu essen, sie frieren im Winter, bekommen aber mit zehn Jahren Zigaretten. Fehlende Zuwendung und Einsamkeit dominieren Urds Leben:
Ich weiß, dass all die Zeit, die ich allein bin, mich noch einsamer macht. (S. 110)
Jeder von uns bleibt für sich allein, unsere Spuren kreuzen sich kaum. (S. 193)
Noch schlimmer wird es, als die älteren Geschwister nacheinander die Familie verlassen. Um sich der Verluste zu versichern, notiert Urd alles Verschwundene in einem Heft, das sie unter ihrem Kopfkissen versteckt:
Ich muss die Dinge im Auge behalten. (S. 67)
Realität und Fantasie
Viel besser als mit den Menschen, die für sie unberechenbar bleiben, kommt Urd in der Natur zurecht, obwohl auch sie oft bedrohlich wirkt. In den starken Passagen über ihre sensiblen Begegnungen mit Tieren und Pflanzen in einer seltsam schwebenden Atmosphäre verschmelzen Realität und Fantasie auf beklemmende Weise.
Skabelon ist ein Roman ohne klaren Höhepunkt oder Abschluss, trotzdem löste der fragmentierte Erzählstrom in kurzen, unsentimentalen Sätzen schnell eine Sogwirkung bei mir aus. Durch die chronologische Erzählweise in experimenteller, aber trotzdem gut lesbarer Form lässt sich die Bewusstseinsentwicklung der Ich-Erzählerin nachvollziehen. Stück für Stück erschließt Urd sich ihre Umgebung. Das Ziel aller Kinder formuliert einer der Brüder:
Wir müssen wachsen und wachsen. Dann können wir uns irgendwann unser Leben selbst aussuchen. (S. 195)
Mysteriös und gut
Rätselhaft bleibt, warum niemand eingreift, obwohl über die dysfunktionale Familie geredet wird und Urds seltsames Verhalten in der Schule auffällt. Schwer zu verstehen ist auch die Bedeutung des Titels, der laut Vorbemerkung im Buch übersetzt so viel wie „Schablone“, „Fasson, die ein Lebewesen oder ein Gegenstand aufweist oder annimmt“ oder „Missgeburt“ bedeutet. Zusammen mit dem geheimnisvollen, grob strukturierten Einband, über den man gerne mit der Hand streicht, macht genau dieser Schleier des Mysteriösen den Roman außergewöhnlich und empfehlenswert.
Malin C.M. Rønning: Skabelon. Aus dem Norwegischen von Andreas Donat. Karl Rauch 2022
karl-rauch-verlag.de