Margaret Laurence: Der steinerne Engel

  Ein freudloses Leben

Das Cover mit der schräg laufenden, lilafarbenen Schrift über dem Gesichtsausschnitt einer Greisin mit auffallendem Ohrring gibt bereits viel über die 90-jährige Ich-Erzählerin Hagar Shipley preis. Entschieden und rücksichtslos bahnte sie sich ihren Weg, ihr übergroßer Stolz bescherte ihr und den Menschen ihrer Umgebung ein freudloses Leben und mit der Kleiderfarbe Lila provoziert sie im hohen Alter ihre konservative Schwiegertochter.


Viele Opfer

An ihrem treuen, zeitlebens geringgeschätzten Sohn Marvin und dessen Frau Doris tobt Hagar im Alter ihre Bosheit, Scharfzüngigkeit und Ungerechtigkeit, ihren Ärger über die eigene Schwäche und ihren Starrsinn aus. 17 Jahren leben beide bereits in Hagars Haus, doch nun fühlen sie sich der zunehmenden geistigen und körperlichen Probleme der Mutter nicht mehr gewachsen. Mit aller Macht verweigert Hagar jedoch den Umzug ins Seniorenheim Silberfaden. Stattdessen erwartet sie bedingungslose Fürsorge von Schwiegertochter und Sohn, ohne solche jemals selbst gegeben zu haben. In einem ihrer seltenen, aber durchaus vorhandenen ehrlichen Momente gesteht sie sich ein:

Ich bin niemandem zu Dankbarkeit verpflichtet. Das Dumme ist nur, mir fallen nicht allzu viele ein, denen ich geholfen hätte. (S. 313)

Gegenwart und Vergangenheit
Während Hagar mit überraschenden Einfällen gegen den Verlust ihres Zuhauses kämpft, stürzen ungebeten Erinnerungen auf sie ein. Äußerst raffiniert und sprachlich begeisternd verknüpft die kanadische Autorin Margaret Laurence Gegenwart und durch Farben, Geräusche oder Ereignisse ausgelöste Erinnerungssplitter. Von Kindheit an prägten übermäßiger Stolz und die Weigerung, Gefühle zu offenbaren, Hagars Leben. Aufgewachsen ohne Mutter und ihrem strengen, erfolgreichen Vater ähnlich, kam es zum völligen Bruch, als sie gegen seinen Willen den 14 Jahre älteren, unambitionierten Farmer Brampton Shipley heiratete. Bald schämte sie sich für dessen sprachliche Mängel und fehlende Manieren. Beide Söhne litten schwer unter ihrer Mutter: Strafte sie den älteren, Marvin, mit Nichtbeachtung, so führten die übersteigerten Erwartungen an den jüngeren, John, schließlich zur Tragödie. Blind und starr wie der titelgebende steinerne Engel auf dem Grab ihrer Mutter verstellte Hagar sich und ihrer Familie den Weg zu einem erfüllten Leben.

© B. Busch

Zwei gescheiterte Frauen
Wie Ann Ambros in Vicky Baums 1951 erschienenem Roman Vor Rehen wird gewarnt ist auch Hagar Shipley eine starke, intelligente Frau. Beide sind Kämpferinnen und scheitern dennoch auf ganzer Linie an sich selbst. Die stählerne Sanftmut, mit der Ann gnadenlos Menschen zum eigenen Vorteil aus dem Wege räumt, hat mich zwar abgestoßen, durch die Raffinesse aber zugleich fasziniert. Hagars Borniertheit rief jedoch – trotz später Ansätze von Einsicht – nur Trauigkeit und Wut bei mir hervor, aber trotz ihrer spürbaren Angst vor Alter und Tod kein Mitleid.

Gastland Kanada
Margaret Laurence (1926 – 1987) gehört zu den bekanntesten Autorinnen Kanadas. Fünf ihrer Romane spielen wie Der steinerne Engel aus dem Jahr 1964 im fiktiven Präriestädtchen Manawaka, für das ihr Geburtsort Neepawa, 170 Kilometer von Winnipeg entfernt, Vorbild war. Der steinerne Engel ist der Beginn einer Trilogie und wurde zum Gastlandauftritt Kanadas auf der Frankfurter Buchmesse 2020 (und coronabedingt 2021) von Monika Baark neu übersetzt. Es lohnt sich, diesen modernen Klassiker mit seiner überraschenden Aktualität neu- oder wiederzuentdecken. Hagar Shipley kann man unmöglich mögen, ihre Lebensbeichte dagegen unbedingt!

Margaret Laurence: Der steinerne Engel. Aus dem kanadischen Englisch von Monika Baark. Eisele 2020
eisele-verlag.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern auf diesem Blog, die anlässlich des  Gastlandauftritts von Kanada auf den Frankfurter Buchmessen 2020/2021 erscheinen:

   

3 Kommentare

  1. Du verstehst es aber auch immer, ein Buch schmackhaft zu machen…
    An sich muss ich den steinernen Engel nicht lesen, aber der Vergleich mit Ann Ambros… macht ihn wieder interessant 😉
    Ich liebe deinen Blog. Es gibt immer etwas Neues zu entdecken!

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