Schrei nach Freiheit
Margaret Laurence (1926 – 1987) gehört zu den wichtigsten Autorinnen Kanadas und beeinflusste maßgeblich Alice Munro und Margaret Atwood. Letztere schildert in ihrem vorzüglichen Nachwort zu Eine Laune Gottes eine unvergessliche Begegnung mit ihrem literarischen Idol anlässlich der Verleihung des Governor Generals’s Award 1967 und begründet, warum sie ihn für deren besten Roman hält.
Die Manawaka-Serie
Zentral im Werk von Margaret Laurence sind die fünf Romane der Manawaka-Serie, jener fiktiven Kleinstadt in Manitoba, die ihrer 170 Kilometer von Winnipeg entfernten Geburtsstadt Neepawa ähnelt. 2020 erschien der erste Teil aus dem Jahr 1964 in neuer Übersetzung von Monika Baark im Eisele Verlag unter dem Titel Der steinerne Engel, nun der zweite, gänzlich unabhängig zu lesende, aus dem Jahr 1966, der somit fast zeitgleich mit John Williams‘ Stoner erschien. Sowohl in Stoner als auch in Eine Laune Gottes sind die Protagonisten in einer klaustrophobischen Welt gefangen. In Stoner wird das ganze Leben eines Mannes erzählt, in Eine Laune Gottes von einer kurzen Spanne im Leben einer Frau, die zum Wendepunkt werden könnte.
Ewig Tochter
Rachel Cameron, 34 Jahre alt und Ich-Erzählerin, sah sich nach dem Tod des Vaters gezwungen, ihren Ausbruchsversuch zum Studium nach Winnipeg abzubrechen und fortan die hypochondrische, sanft auftretende, aber anmaßende und hochgradig manipulative Mutter zu umsorgen:
Ihre Waffen sind unsichtbar, und sie würde nie zugeben, welche zu tragen, geschweige denn, zu ihnen zu greifen. (S. 61/62)
Rachel kehrte als Lehrerin an ihre frühere Grundschule zurück, bezog ihr unverändertes Kinderzimmer und nahm ihre Rolle als braves, schüchternes, wegen ihrer überdurchschnittlichen Körpergröße linkisches Mädchen wieder ein, dem inzwischen bereits etwas Altjüngferliches anheftet. Das Feststecken in der engen Welt ihrer Kindheit und die erdrückende Konventionalität des Präriestädtchens ließen sie bitter werden. Nach außen still und angepasst, herrschen in ihrem Kopf ganz andere Gefühle und Gedanken vor: Enttäuschung, Verzweiflung, Ängste, Einsamkeit, Selbstironie, beißender Spott und Wut gegen alles und alle in ihrer Umgebung, aber auch erotische Fantasien. Trotz ihrer analytischen Klarheit und Intelligenz kann sie sich nicht von fremden Erwartungen und der bösartigen Mutter lösen:
Derlei Worte bleiben mir im Gedächtnis hängen wie Kletten in den Haaren, und ich schaffe es irgendwie nie, sie rauszubürsten, wie ich es eigentlich tun sollte. (S. 189)
Eine überraschende Chance
Als ihr früherer Schulkamerad Nick Kazlik, Sohn des ukrainischen Milchmanns, die Sommerferien in Manawaka verbringt, gehen die beiden mit unterschiedlichen Erwartungen eine sexuelle Beziehung ein. Während sich Rachel erstmals mütterlichen Wünschen widersetzt, klammert sie sich zugleich wie die oben zitierte Klette an Nick. Kann die Affäre so zum Tor in die Freiheit werden oder führt sie zu einer weiteren Niederlage?
Zeitloser Klassiker
2020 mochte ich Der steinerne Engel mit der 90-jährigen Ich-Erzählerin Hagar Shipley, nun gefiel mir Eine Laune Gottes sogar noch besser. Die ebenso raffiniert wie borniert und rücksichtslos um ihre Autonomie kämpfende Hagar ist zwar als literarische Figur interessant, konnte aber nicht wie Rachel mein Mitgefühl wecken. Beide Romane sind elegant geschrieben, voller Anspielungen und Bilder, meiden jede Sentimentalität, bestechen durch ihre verblüffende Zeitlosigkeit und sind absolut lesenswert. Die Wendungen in Eine Laune Gottes bis hin zum glaubhaften Ende sind allerdings noch meisterhafter.
Margaret Laurence: Eine Laune Gottes. Aus dem kanadischen Englisch von Monika Baark. Eisele 2022
eisele-verlag.de
Weitere Rezension zu einem Roman von Margaret Laurence auf diesem Blog:
Hallo Barbara,
danke für die schöne Rezension! Sie gibt einen guten Einblick – und erinnert mich daran, dass ich ja eigentlich auch vorhatte, „Der steinerne Engel“ und „Ein Laune Gottes“ zu lesen.
LG,
Mikka
Hallo Mikka,
danke, ich kann es dir dringend empfehlen!
LG Barbara