Matthias Jügler: Maifliegenzeit

  Was man nicht sieht

40 Jahre liegen zwischen den beiden zentralen Ereignissen des Romans Maifliegenzeit von Matthias Jügler. Der Ich-Erzähler Hans, ein 65-jähriger pensionierter Lehrer und Hobbyangler, hat 1978 seinen angeblich nur Stunden nach der Geburt verstorbenen Sohn Daniel in einem selbst ausgehobenen Grab auf dem Größnitzer Friedhof im heutigen Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt begraben. Mit dem Tod ihres Wunschkinds zerbrach die Beziehung zwischen Hans und Katrin. Statt gemeinsam zu trauern und sich Halt zu geben, entfernte das schreckliche Ereignis die verhinderten Eltern immer weiter voneinander. Während Katrin sich aufbäumte und zweifelte, verstummte Hans in Schockstarre, akzeptierte die Tragödie und forderte dasselbe von ihr. Schuldgefühle verfolgen ihn deshalb bis heute:

Heute weiß ich, dass der Versuch, die Ereignisse der Vergangenheit unter den Teppich zu kehren, um das Leben führen zu können, was man ein normales Leben nennt, von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. (S. 10)

Leben mit dem Verlust
Wie einst sein Vater findet Hans Trost beim Angeln in der Unstrut. Erst 1987 sieht er die von ihrer Krebserkrankung gezeichnete Katrin in Erfurt ein letztes Mal wieder, wo sie ihn bittet, zum richtigen Zeitpunkt die Augen offenzuhalten.

© B. Busch. Cover: © Penguin

Wiederholt unternimmt Hans nach der Wende Versuche, Katrins Verdacht nachzugehen, unterstützt von seiner klugen, warmherzigen und einfühlsamen neuen Partnerin Anne. Er trifft auf Ablehnung, Misstrauen und Zurückweisung: Zwangsadoptionen, ja, aber vorgetäuschten Kindstod hätte es wohl in Francos Spanien, nicht aber in der DDR gegeben!

Doch dann geschieht das Unglaubliche: Nach 40 Jahren ruft Daniel, der nun Martin heißt, an:

Ich war am Ende einer unwahrscheinlichen Geschichte angelangt. Dabei fing es, wie ich heute weiß, eigentlich erst richtig an. (S. 82)

Wie ein sicher geglaubter Fisch an der Angel sich manchmal losreißt, droht auch der wiedergefundene Sohn abzutauchen, wenn Hans nicht größtes Geschick beweist:

Geduld, das hatte mir mein Vater vor Jahrzehnten beigebracht, brauchte man als Angler gleich zweimal: bevor der Fisch beißt – und danach. (S. 143)

Ein phantastischer Erzähler
Maifliegenzeit
ist der dritte Roman des 1984 in Halle geborenen Autors Matthias Jügler, sehnsüchtig von mir erwartet, da mich bereits die beiden Vorgänger Raubfischen von 2015 und Die Verlassenen von 2021 begeistert haben. Alle drei Bücher sind schmal und extrem verdichtet. Die Sprache ist reduziert und unpathetisch, die Metaphern passgenau und es bleibt genau die richtige Menge Raum für Ungesagtes. Der leise, von Melancholie und Nachdenklichkeit getragene Erzählton, die sensiblen Naturschilderungen und die schmerzlichen Themen erinnern an Skandinavier wie Per Petterson.

Unsichtbar und doch existent
Man muss nicht die Begeisterung des Autors für das Angeln teilen, um die Szenen an der Unstrut und die Geschichten über Karpfen, Barbe, Aal, Forelle und Hecht zu lieben, die nicht nur Hans, sondern auch die Leserinnen und Leser in den unerträglichsten Momenten trösten. Nie stehen diese Passagen für sich, immer findet sich ein direkter Bezug zur Romanhandlung. Besonders eindrücklich gelingt das beim titelgebenden Maifliegenfischen mit jenen Eintagsfliegen, die erst nach mehrjährigem Larvenstadium auf dem Grund ihres Gewässers einzig zur Fortpflanzung an die Oberfläche kommen:

Aber nur, weil sich etwas dem Blick so konsequent entzieht, heißt das nicht, dass es nicht existiert. (S. 79)

Obwohl wissenschaftliche Beweise für systematisch vorgetäuschten Säuglingstod in der DDR, wie ihn auch die empfehlenswerte ARD-Fernsehserie Weißensee thematisiert, bisher fehlen, sind inzwischen drei solcher Fälle belegt. Wie viele der etwa 2000 Verdachtsfälle begründet sind, ist unbekannt, jedoch ist jeder einzelne eine nicht wiedergutzumachende Katastrophe für die Betroffenen.

Matthias Jügler: Maifliegenzeit. Penguin 2024
www.penguin.de

 

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