Maria Borrély: Das letzte Feuer

  Das Lied der Asse

Der exzellenten Übersetzerin Amelie Thoma und dem Kanon Verlag ist es zu verdanken, dass wir nach Mistral aus dem Jahr 1930 nun auch den ein Jahr später erschienenen zweiten Roman Das letzte Feuer der in Marseille geborenen Lehrerin, Autorin, Kommunistin und Résistance-Anhängerin Maria Borrély (1890 – 1963) wieder lesen können. Amelie Thoma entdeckte die zeitweise vergessene Schriftstellerin, die den größten Teil ihres Lebens in der Haute Provence verbrachte, bei einem ihrer zahlreichen Urlaubsaufenthalte im Département Alpes-de-Haute-Provence. Sie verliebte sich – genau wie der Literaturnobelpreisträger André Gide (1869 – 1951) und Borrélys provenzalischer Kollege Jean Giono (1895 – 1970) viele Jahre zuvor – in ihre schmalen Romane, deren großes Thema, wie sie im Nachwort zu Mistral schreibt, das „Mit- und Gegeneinander von Mensch und Natur“ ist. Schade, dass der Verlag die Übersetzerin bei diesen Verdiensten nicht auf dem Cover nennt.

Der Stein rollt ins Tal
Im schwer zugänglichen Bergdorf Orpierre-d’Asse gibt es zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur wenige Häuser. Es herrschen Armut, Not und Unfrieden unter den „Schmalhänsen“, wie die Dörfler genannt werden:

Es gibt nichts als Zank, Hader und Prozesse, denn wenn die Krippe leer ist, streiten die Ochsen. (S. 10)

Mit dem Bau einer Brücke und der Eindeichung der rauschenden Asse, die zuvor ihre Felder wegspülte und die Ernte vernichtete, ändert sich das ärmliche Leben im Dorf. Nun entstehen fruchtbare, bewässerte und geschützte Flächen. Ein Aufatmen bis hin zum Übermut geht durch Orpierre-d’Asse:

Ihre Freude strömt über wie ein Bach. (S. 25)

Den Ersten, der nach unten zieht, halten die anderen noch für verrückt, aber plötzlich wollen auch sie ins Tal. In der allgemeinen Aufbruchsstimmung entstehen neue Häuser, eine Kirche, ein Gasthof und eine Schule. Man hilft sich gegenseitig:

Vergessen, die alten Ärgernisse und Querelen. (S. 29)

Bald brennt oben nur noch ein letztes Feuer, denn die alte Pélagie weigert sich strikt, mit ihrer Enkelin Berthe hinunterziehen. Zu verwurzelt ist sie und zu sehr misstraut sie auch dem gebändigten Fluss. Nur kurz schöpft sie Hoffnung auf neues Leben in den verfallenden Häusern, als Berthe sich mit Auguste aus dem Tal verheiratet. Doch obwohl auch dort längst nicht alles Gold ist, was glänzt, hofft sie vergeblich:

Der Stein steigt nicht wieder hinauf, er rollt. (S. 72)

Und so bleibt ihr Feuer das letzte, nur sie läutet noch die Totenglocke an Allerheiligen und erinnert die Weggezogenen an ihre Familiengräber. Nichts anderes wünscht sie sich mehr, als rechtzeitig vor der Stilllegung des alten Friedhofs zu sterben.

© B. Busch. Cover: © Kanon

Eine wunderbare Wiederentdeckung
Wie der Wind in Mistral „weht“, „heult“, „rast“, „wütet“, „zerrt“, „brüllt“, „pfeift“, „wummert“, „heißer röchelt“ und „beißt“, so „singt“, „droht“, „tobt“, „tost“ in Das letzte Feuer die Asse, „schwillt an“, „treibt es bunt“, „reist Bäume fort“ und „rast heran gleich einer Horde galoppierender Pferde“ – entsprechend den Menschen, die an ihrem Ufer leben. Nicht verwunderlich also, dass Pélagie in diesem höchst empfehlenswerten, schlicht und dadurch umso eindrucksvoller erzählten literarischen Kleinod über dörflichen Alltag zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihr Fazit über das Leben an der Asse festmacht:

„Die Zeit ist wie die Asse“, sagt sie, „sie hinterlässt Zerstörung auf ihrem Weg“. (S. 118)

Maria Borrély: Das letzte Feuer. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Kanon 2024
kanon-verlag.de

 

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