Monika Helfer: Die Jungfrau

  Am längeren Hebel

Es gibt Herzensbücher, andere, die mir nicht gefallen und viele Abstufungen dazwischen. Eine weitere Kategorie ist glücklicherweise eher selten: die, deren Lektüre ich bedauere, weil sie mir eine geschätzte Autorin oder einen liebgewordenen Autor verleiden. Zuletzt ist mir das 2020 bei Das Gewicht der Worte von Pascal Mercier passiert und nun leider mit Die Jungfrau von Monika Helfer. Dabei sind beide Bücher stilistisch großartig und Monika Helfer glänzt erneut durch maximale Verdichtung, geniale Zeit- und Gedankencollagen, packende Reflexionen über das Schreiben und ihren gewohnt lakonischen Ton. Anders jedoch als in ihren autofiktionalen Familienromanen Die Bagage und Vati, die ich begeistert gelesen habe, hat mich das kleine Buch über ihre fiktive, aus mehreren Vorbildern zusammengesetzte Jugendfreundin Gloria nach starkem Beginn zunehmend abgestoßen.

Eine ambivalente Beziehung
Die Motivation für die ungleiche Mädchenfreundschaft, so man sie überhaupt als solche bezeichnen kann, war von Beginn an gänzlich verschieden. Die begüterte, talentierte, hübsche und vaterlos aufwachsende Gloria brauchte ein ihr unterlegenes, manipulierbares Publikum und wollte mit Hilfe der Ich-Erzählerin Moni der Einsamkeit mit ihrer psychisch kranken Mutter entkommen. Für Moni dagegen bot Glorias feudale Umgebung Glanz und Fluchtmöglichkeit aus häuslicher Enge und Armut. Dafür opferte sie ihre Freiheit und andere Freundschaften und war zwischen 13 und 18 Jahren fast jeden Tag in Glorias feudaler Villa, dem „Geisterhaus“ (S. 79), „friedlichen Märchenungeheuer“ (S. 59) und „prächtigen Hausmonster“ (S. 71). Faszination, Neid und Wut hielten sich die Waage, gerne nutzte sie Gloria als Telefonseelsorgerin während ihrer missglückten Hochzeitsreise und ärgert sich gleichzeitig bis heute, sie „immer vorgelassen“ (S. 32) zu haben.

Ein Flashback
Monis frühe erste Ehe und Mutterschaft ließen den Kontakt einschlafen, erst an ihrem 70. Geburtstag erreicht sie ein Brief von Glorias Nichte mit der Bitte um einen Besuch. Die ehemalige Freundin ist in einem erbärmlichen Zustand, ihr Leben krachend gescheitert, abgebrochenes Schauspielstudium, Rückkehr nach Hause, kränkelnd seit dem Tod der Mutter vor 30 Jahren. Nicht einmal ihre Jungfräulichkeit hat sie verloren, wie sie Moni anvertraut, verbunden mit einer Bitte:

Ja, Moni, schreib eine Seite über mich, denn wenn ich sterbe, ist dann noch etwas von mir da. (S. 17)

In Moni flammt mit dem Wiedersehen alte Wut erneut auf:

Während ich mit Wut auf die Tastatur klopfe, ärgere ich mich über Gloria nicht weniger, als ich mich damals geärgert hatte. […] Wofür man sich vor fünfzig Jahren rächen wollte, das ist nicht verziehen. (S. 84)

Mangelnde Größe
Spätestens hier hatte mich der Roman, fiktional oder nicht, verloren. Dass die jugendliche Moni Glorias Bedürftigkeit inmitten ihrer Reichtümer nicht erkennt, ist verständlich. Aber dass sie beim Anblick der gescheiterten Gloria auftrumpft und nur einzelne Höhepunkte ihres Scheiterns aufzählt, um sie ihren eigenen Erfolgen gegenüberzustellen, hat mich abgestoßen. Denn anders als der Titel vermuten lässt, steht nicht Gloria im Mittelpunkt, sondern Moni: ihre Befreiung aus der ersten Ehe, die zweite Ehe mit dem Schriftsteller Michael Köhlmeier, die vier Kinder und ihre späten schriftstellerischen Höhenflüge. So interessant ich diese Passagen fand, so wenig kann ich das Nachkarten einer doch zweifellos klugen Frau verstehen. Warum akzeptiert sie widerwillig Glorias Wunsch, um ihn dann zu konterkarieren?

Weitere autofiktionale Romane von Monika Helfer mag ich nun nicht mehr lesen. Sollte sie das Genre wechseln, mache ich vielleicht einen neuen Versuch.

Monika Helfer: Die Jungfrau. Hanser 2023
www.hanser-literaturverlage.de

 

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