Die Familiengeschichte geht weiter
In hohem Alter erzählte Tante Kathe der Nichte Monika Helfer die Geschichte ihrer Familie mütterlicherseits mit der Auflage, sie erst nach ihrem Tod für einen Roman zu verwenden. Unter dem Titel Die Bagage war er eines meiner Lese-Highlights 2020. Die bitterarmen Lebensverhältnisse, in denen die Familie Moosburger als verachtete „Bagage“ im hintersten Bregenzerwald lebte, und das Schicksal ihrer Mutter Grete als vermeintliches Kuckuckskind erzählte Monika Helfer äußerst knapp, mit Unschärfen, ohne Dramatisierung oder Pathos und ebenso lebendig wie elegant.
In ihrem neuen Roman, Vati, steht nun ihr Vater Josef im Mittelpunkt. Man muss den Vorgängerband nicht kennen, da alle notwendigen Informationen kurz zusammengefasst werden, trotzdem macht es mit Vorkenntnissen noch mehr Spaß. Ich habe mich jedenfalls sehr gefreut, so viele „alte Bekannte“ wiederzutreffen.
Anders ist bei diesem neuen Buch das Schöpfen aus eigenen Erinnerungen. Darüber hinaus hat Monika Helfer ihre Stiefmutter befragt – und auf deren Wunsch bis nach ihrem Tod mit dem Schreiben gewartet – und eigene Erinnerungen mit denen ihrer beiden Schwestern verglichen.
Auf und ab
Die Lebensumstände ihres Vaters als unehelich geborener Sohn einer Magd im Lungau waren ähnlich prekär wie die der Mutter. Allerdings nahm sich ein Pfarrer des begabten Jungen an und sorgte dafür, dass er in Salzburg Aufnahme ins Gymnasium und Schülerwohnheim fand. Schon damals fiel seine ungewöhnliche Liebe zu Büchern auf, die ihn ein Leben lang begleitete.
Ein halbes Jahr vor der Matura erhielt er die Einberufung und verlor in Russland ein halbes Bein und viele Hoffnungen. Weder über seine Kindheit noch über den Krieg sprach der Vater, eher schon, wie er im Lazarett die Mutter kennenlernte. Völlig mittellos lebten die beiden zunächst bei der „Bagage“.
Ab 1955 leitete der Vater das Kriegsversehrtenheim auf der Tschengla, rückblickend ein Paradies für die 1947 geborene zweite Tochter Monika Helfer. Fast wäre ihm seine rücksichtslose Büchersucht dort zum Verhängnis geworden. Als das Unglück abgewendet war, starb die zeitlebens zurückgezogene, den Alltagsanforderungen nicht gewachsene Mutter und Monika Helfer kam mit ihrer älteren Schwester Gretel und der jüngeren Schwester Renate zur Tante Kathe:
Ohne Mutti ist ohne Würde. Sie konnte nicht kochen, aber sie war unsere Würde. Natürlich wusste ich damals nicht, was dieses Wort bedeutete, aber heute weiß ich es. Alle wissen: Die Gretel und ich sind noch dazu nur untergestellt bei den Armen, wir sind sogar noch ärmer als die Armen, die Ärmsten der Armen sind unsere Wohltäter. (S. 109)
Wenn die Not am größten ist, greift die „Bagage“ ohne viele Worte ein:
Tante Kathe sagte: „Es geht niemand verloren.“ Diesen Satz habe ich später sehr oft von ihr gehört. (S. 111)
Zuletzt vermitteln sie dem Vater sogar eine neue Frau und eine Stelle. Die vier Kinder bekommen wieder ein Zuhause:
Das waren trotz allem schöne Abende. Das Paradies waren sie nicht, das war oben, 1220 Meter über dem Meer, für uns nicht mehr erreichbar. (S. 117)
Große Literatur auf nur 172 Seiten
Es ist bei weitem nicht nur die anrührende Lebensgeschichte des Vaters, die Monika Helfer „mehr wahr als unwahr“ (S. 9) in puzzleartigen Versatzstücken erzählt. Es ist ihre eigene Geschichte bis zur Gegenwart und eine Reflexion über das Schreiben und Erinnern, letzteres am greifbarsten in der Übergangsphase zwischen Wachsein und Schlaf. Vor allem aber ist es wieder ein großes Stück Literatur.
Monika Helfer: Vati. Carl Hanser 2021
www.hanser-literaturverlage.de
Weitere Rezension zu einem biografischen Roman von Monika Helfer auf diesem Blog: