Nicht jede Wahrheit kann fiktional erfasst werden, aber ich weiß, dass ich mir selbst gegenüber ehrlicher bin, wenn ich einen fiktionalen Text schreibe, als wenn ich vorgebe, die Wahrheit zu sagen. (S. 423)
Eine Kreuzfahrt zum 14. Hochzeitstag soll die Ehe der erfolgreichen Schriftstellerin Lucie, KünstlernameJ.B. Blackwood, und dem bekannten Filmregisseur Patrick Heller retten. Was an einer australischen Universität als Beziehung zwischen einer 24-jährigen Studentin und ihrem allseits verehrten, charismatischen britischen Dozenten begann und jahrelang ihrer beider Arbeit bestens befruchtete, endet nahe der russischen Halbinsel Kamtschatka mit einer Tragödie. Was geschah während des Sturms an Deck der „Adventure of the Seas“ wirklich und wie konnte es dazu kommen?
Jegliche Einschätzung dessen, was zeitgleich geschieht, wird durch das, was davor geschah, kontextualisiert. (S. 326)
Wahrheit und Fiktion
Zur Beantwortung dieser Fragen sind die Leserinnen und Leser ausschließlich auf Lucies Bericht angewiesen, in deren Kopf wir uns über die gesamten 461 Seiten des Romans befinden. Er erweist sich schnell als ebenso fragwürdig wie absichtsvoll. Die australische Autorin und Literaturwissenschaftlerin Sarah Bishop, die im britischen Norwich lebt und dort kreatives Schreiben unterrichtet, liefert uns einer durch und durch unzuverlässigen Erzählerin aus, bei der Wahrheit und Fiktion ein undurchdringliches Dickicht bilden. Immer wieder erzählt Lucie Episoden auf unterschiedliche Art und Weise, flüchtet mit ihrer diffusen Erzählstimme in kleinteilige Details, um vom Wesentlichen abzulenken, und streut selbst Zweifel an ihrem Erinnerungsvermögen und an ihrer Glaubwürdigkeit, wie hier bei der Vernehmung durch die japanische Polizei:
Ich konnte ihnen nicht sagen, dass ich nur allzu oft meine eigene Version des Erlebten in Zweifel ziehe. (S. 47)
Ungleiche Machtdynamik Der Jahrestag kein Krimi, wie man vielleicht vermuten könnte. Eher handelt es sich um einen Ehe- und Künstlerroman, der das Machtgefälle in einer Beziehung thematisiert, in der der männliche Teil wesentlich älter und bereits erfolgreich ist, während die weibliche Karriere erst beginnt. Die scharfsinnigen, bisweilen von subtilem Humor grundierten Überlegungen zu patriarchalen Strukturen in Ehe und Literaturbetrieb und zur Frage, wieviel autobiografisches Schreiben und weiblichen Erfolg eine Ehe verträgt, sowie zu den Unterschieden zwischen Literatur und Film sind das Plus des Romans.
Opfer oder nicht? Allerdings hat mich weder der Plot noch die Protagonistin überzeugt, die für mich als Figur nicht schlüssig ist. Nie hatte ich ein Bild von ihr vor Augen, genausowenig wie von ihrem Roman, der im Buch eine entscheidende Rolle spielt, selten gelang es mir, äußere Geschehnisse und Erzählinhalt zusammenzubringen. Weder die Opferrolle noch die ständig betonte Schwäche oder die Klagen über Fremdbestimmung habe ich ihr geglaubt. Im Gegenteil hat mich das Fehlen jeglicher Selbstkritik, die permanenten Anklagen und die Ungereimtheiten, wenngleich beabsichtigt, zunehmend ermüdet. Bei einigen Details habe ich mich gefragt, was unzuverlässige Erzählstimme und was mangelnde Recherche der Autorin ist.
Interessant sind dagegen die vielen Schauplätze auf verschiedenen Kontinenten von Großbritannien über Japan, die USA und Australien, die gut zu Lucies Atemlosigkeit passen. Erst auf den letzten Seiten ändert sich der Erzählton, passend zu ihrer neuen Situation, was für mich allerdings die Frage nach der Erzählzeit des Hauptteils aufwirft.
Der Jahrestag ist die perfekte Lektüre für alle, die beim Lesen gerne rätseln. Mir waren es einige Rätsel und Ungereimtheiten zuviel.
Stephanie Bishop: Der Jahrestag. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. dtv 2023 www.dtv.de
Zu ihrem 150. Geburtstag beschenkt der Verlag Manesse die amerikanische Autorin Willa Cather (1873 – 1947) und sein Publikum mit einer wunderschönen Neuausgabe ihres elften Romans Lucy Gayheart im bekannt kleinen Format mit bunter Fadenheftung und Lesebändchen. Über 60 Jahre alt und bereits mit dem Pulitzer-Preis dekoriert war die Autorin 1935 beim Erscheinen ihres vorletzten Romans, mehr als dreimal so alt wie ihre Protagonistin.
Erinnerungen Bereits zu Beginn erfahren wir, dass Lucy Gayheart für die Bewohnerinnen und Bewohner ihres fiktiven Heimatstädtchens Haverford, Nebraska, nur noch als schöne Erinnerung weiterlebt. Gerne denken sie an den Wirbelwind zurück, der unbekümmert, heiter, charmant, voller Romantik war. Im Winter liebte sie das Schlittschuhlaufen auf dem zugefrorenen Platte River, eine Vorliebe, die so gut zu ihrem Wesen passte wie das Schaukeln zu Theodor Fontanes Effi Briest. Gelegentlich schloss sich ihr der acht Jahre ältere, vermögende Kleinstadtbankier Harry Gordon an, ein junger Mann, der eine bessere Partie hätte machen können, doch wie alle Haverforder dem Zauber Lucys seit langem erlegen war und allgemein als ihr zukünftiger Ehemann galt.
Eine Begegnung, die alles verändert
In den Weihnachtferien 1901 war Lucy, die inzwischen im entfernten Chicago Klavier studierte und Musikunterricht erteilte, zurück in Haverford. Ungezwungen, fast noch kindlich glitt sie mit Harry über den zugefrorenen Fluss, aber etwas hatte sich verändert. Nun freute sie sich mehr als sonst auf die Rückkehr in die Großstadt, nicht nur wegen ihres eigenen Zimmers, dank dem sie „frei wie ein junger Mann kommen und gehen“(S. 32/33) konnte, sondern auch wegen eines Vorstellungstermins beim bekannten Bariton Clement Sebastian, der eine Klavierbegleitung für seine Übungsstunden suchte. Ein Besuch seines Konzertes im letzten Herbst hatte sie spontan für diesen knapp fünfzigjährigen, verheirateten Künstler entflammt, überwältigt von seiner ausdrucksstarken Vortragsweise des Schubert‘schen Liedguts und seiner schwermütigen Ausstrahlung. Verändert kehrte sie an diesem Abend in ihr Zimmer zurück:
Vom ersten Tag an war sie in Chicago glücklich gewesen und hatte sich für vom Schicksal begünstigt gehalten, weil sie aus ihrem kleinen Heimatort in die große Stadt hatte fliehen können […]. Aber jene Zeiten lagen weit zurück. An dem Abend, als sie zum ersten Mal Clement Sebastian gehört hatte, begann für sie ein neues Leben. Zuvor hatte sie nur mit Nichtigkeiten und Träumereien herumgespielt. (S. 113/114)
Von nun an hing Lucys Glückseligkeit von der Anwesenheit dieses Mannes in der Stadt ab, pendelnd zwischen Hoffen und Bangen. Über ein Jahr – bis zur Weihnachtszeit 1902 – folgt man lesend und bangend ihrem Schicksal in Chicago und Haverford und schließlich, im dritten Teil des Romans, den Gedanken des nachdenklichen, veränderten Harry Gordon von 1927, die das Buch äußerst gekonnt abrunden.
Fußspuren Begeistert und ergriffen habe ich diesen modernen, überhaupt nicht verstaubten Klassiker über drei Menschen mit völlig unterschiedlicher Beziehung zur Zeit gelesen. Während Sebastian der Vergangenheit nachhängt, träumt Lucy von der Zukunft und will Harry die Gegenwart beherrschen. Obwohl von zarter Melancholie durchzogen, ist es dank Willa Cathers überragender Erzählkunst kein trauriges Buch. Mit wunderbaren Bildern aus der Musik und der Natur Nebraskas, in denen sich die Stimmungen und das Gefühlsleben der Haupt- und Nebenfiguren spiegeln, erzählt sie völlig ohne Kitsch eine zu Herzen gehende Geschichte über hochfliegende Träume. Sie wird die Zeit ebenso überdauern wie die sorgsam von Harry gehüteten Fußabdrücke der übermütigen Dreizehnjährigen im noch nicht festen Beton vor ihrem Haus.
Willa Cather: Lucy Gayheart. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Elisabeth Schnack. Für die Neuausgabe durchgesehen von Susann Ostwald. Nachwort von Alexa Hennig von Lange. Manesse Verlag 2023 www.penguin.de/Verlag/Manesse
Seit 2016 stellt die Redaktion des schwedischen Bonniers Buchklub eine Liste mit zwölf schwedischen oder ins Schwedische übersetzten Titeln von hoher sprachlicher Qualität zusammen, die sich für ein breites „Årets bok„. Zwei der Siegertitel habe ich mit großer Freude gelesen: 2017 erhielt Alex Schulman den Preis für Glöm mig, 2021 Ann-Helén Laestadius für Stöld, in deutscher Übersetzung Das Leuchten der Rentiere. Meine Erwartungen waren daher beim Gewinnertitel von 2022 Dit du går, följer jag, dem Debüt der 1977 geborenen Physiologie-Professorin und schwedischen Parlamentsabgeordneten Lina Nordquist, im Diogenes Verlag als Mein Herz ist eine Krähe erschienen, hoch.
Zwei Frauenleben Unni und Kåra, die sich kapitelweise als Ich-Erzählerinnen abwechseln, stehen im Mittelpunkt des Romans. Obwohl sie sich nie begegnen, sind ihre Schicksale eng miteinander verbunden. Beiden droht aus unterschiedlichen Gründen die Zwangseinweisung in eine Irrenanstalt, beide leben, allerdings zu unterschiedlichen Zeiten, in derselben Bauernkate in Hälsingland, die sie schließlich verlassen, und beide lieben, wenn auch auf unterschiedliche Weise, den selben Mann: Roar. Er ist der dritte, leider jedoch stumme Protagonist.
Unni 1897 muss Unni, die wegen ihrer Heilkunde von der Kirche und der Justiz verfolgt wird, aus dem norwegischen Trondheim fliehen. Zusammen mit ihrem einjährigen unehelichen Sohn Roar und ihrem Geliebten Armod wandert sie bis ins schwedische Hälsingland. Dort beziehen sie eine leerstehende Bauernkate auf einer sonnigen Waldlichtung, die sie „Frieden“ nennen, doch der kehrt nicht ein. Erdrückende Schulden beim Waldbauern, Wetterkapriolen, schwierige Böden, furchtbare Hungerperioden, Elend, Tod und unvorstellbare Gewalt lassen Unni oft verzweifeln, „Herbstbangen“, „Winterdarben“ und „Frühlingshunger“ (S. 136) wechseln sich in Endlosschleife ab:
Es nahm kein Ende. (S. 319)
Kåra Über 70 Jahre später bereiten Roars Schwiegertochter Kåra und dessen Witwe Bricken seine Beerdigung vor. Kåra, psychisch krank seit Kindertagen, inzwischen verwitwet, hat einst geheiratet, um der Einweisung in eine Anstalt zu entgehen. Sie ist abhängig von Psychopharmaka, angstgestört, missmutig und selbstmitleidig, verabscheut die freundliche Schwiegermutter, geht bei Menschen wie Tieren über Leichen und streut wiederholt Zweifel an der Zuverlässigkeit ihrer Erzählung. Was also ist wahr an ihrer angeblichen Liebesbeziehung mit Roar?
Ein zwiespältiges Fazit Legt man die Kriterien für das „Årets bok“ zugrunde, so erfüllt Mein Herz ist eine Krähe die sprachlichen Anforderung klar. Lina Nordquist beschreibt die ebenso atemberaubend schöne wie lebensbedrohliche Natur, Stimmungen und Licht poetisch, bildstark und lebendig. Auch die Schilderung der existentiellen Nöte Unnis hat mir, bevor sie in der zweiten Romanhälfte zu gehäuft und zu detailliert brutal wurde, gefallen. Bei den Wendungen der beiden Erzählstränge, beim Übermaß an Dramatik, bei der Logik, der klischeehaften, statischen Charakterzeichnung und beim Plot hat der Roman jedoch für mich ernüchternde Schwächen und die zweite Hälfte fällt deutlich gegen die erste ab. Selbst wenn man über diverse Zufälle hinwegsieht, handeln die Figuren an entscheidenden Stellen weder zu ihren körperlichen Möglichkeiten noch zu ihrer charakterlichen Beschreibung passend. Schade, denn mit dem Interesse von Lina Nordquist an sozialen und gesundheitspolitischen Fragen und am Schicksal stigmatisierter Frauen früher und heute wäre mehr möglich gewesen. Dafür hätte es allerdings mehr Tiefe, Subtilität und Glaubwürdigkeit, dafür weniger Effekthascherei und Holzhammer gebraucht.
Lina Nordquist: Mein Herz ist eine Krähe. Aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat. Diogenes 2023 www.diogenes.ch
Weitere Rezensionen zu Romanen, die in Schweden als „Årets bok“ ausgezeichnet wurden:
Während eines Irland-Urlaubs 2016 entdeckte ich beim Besuch des Museums „The Old Barracks“ in Cahersiveen am Ring of Kerry eine Erinnerungstafel für den irischen Priester Hugh O’Flaherty, verehrt für seinen Widerstandskampf gegen die Wehrmacht während der Besetzung Roms zwischen September 1943 und Juni 1944. Auf dem Friedhof des Städtchens liegt das Grab dieses beeindruckenden Mannes, der mit einer Gruppe mutiger Gleichgesinnter mehrere Tausend Juden, aus italienischen Kriegsgefangenenlager geflüchtete alliierte Soldaten und andere Verfolgte vor der SS versteckte. Bekannt war er mir aus dem amerikanischen Fernsehfilm Im Wendekreis des Kreuzes von 1983 mit Gregory Peck in der Hauptrolle und Christopher Plummer als dessen Gegenspieler Standartenführer Herbert Kappler.
Keine Biografie Inspiriert vom Leben Hugh O’Flahertys, aber ausdrücklich keine Biografie, ist der Roman In meines Vaters Haus von dessen irischem Landsmann Joseph O’Connor:
Obwohl reale Personen und Ereignisse […] mich inspiriert haben, handelt es sich in erster Linie um einen Roman. Bei Fakten, Charakterisierungen und Chronologie habe ich mir Freiheiten herausgenommen. (Vorbehalt, Bibliografie, Danksagung S. 379)
Entsprechend sind in diesem als literarischer Thriller angelegten Buch sowohl der Haupthandlungsstrang, die Vorbereitung, der Countdown und die Durchführung einer Rendimento genannten Aktion in der Heiligabendnacht 1943, als auch die authentisch wirkenden Dokumente dazwischen nahezu vollständig fiktiv.
Ein Spiel auf Leben und Tod Romankulisse ist das von der Wehrmacht besetzte, vom berüchtigten Gestapo-Chef Obersturmbannführer Paul Hartmann regierte Rom. Ihm untersteht die Stadt, nicht aber der Vatikan als neutrale Enklave, weshalb er der Widerstandsgruppe um den Monsignore Hugh O’Flaherty, die sich in ihrem engsten Kern als Chor tarnt, trotz des Drucks von Adolf Hitler nicht beikommt. Hartmann schäumt vor Wut, es beginnt ein Katz- und Mausspiel auf Leben und Tod.
Ein eingeschworener Chor
Mitglieder des engsten Kreises um den Priester sind die jung verwitwete Contessa Giovanna Landini, die Frau des irischen Gesandten Delia Kiernan, der britische Botschafter Sir D’Arcy Osborne und sein Diener John May, der italienische Kioskbesitzer und Kommunist Enzo Angelucci, die barbituratabhängige Journalistin Marianna de Vries und der britische Major Sam Derry. Trotz ihrer ethnischen, sozialen, intellektuellen und politischen Verschiedenheit einen sie die Freundschaft mit Hugh O’Flaherty und ihre gemeinsame Mission. Abwechselnd berichten sie rückblickend in den frühen 1960er-Jahren, wie sie den von Güte und Glauben durchdrungenen, unkonventionellen Mann kennenlernten, und berichten aus ihrer Sicht vom Rendimento.
Lebendige Charaktere und viel Sprachwitz
Joseph O’Connor trägt bei den Wendungen in der Weihnachtsnacht dick auf und beschreibt jeden von Hugh O’Flahertys Schritten durch gespenstige Keller, unterirdische Tunnel, dunkle Seitenstraßen und Hinterhöfe, über den Tiber und an den Wachen vorbei. Als Nicht-Thrillerleserin war mir diese Schilderung in Summe zu viel. Großartig sind jedoch die Figurenzeichnungen, die jede Person mit einer eigenen, unverwechselbaren Stimme lebendig werden lassen, und der überbordende Sprachwitz, selbst in Situationen von höchster Gefahr.
In meines Vaters Haus ist eine spannende Lektüre über ein in Deutschland wenig bekanntes Stück Kriegsgeschichte mit einem ebenso beeindruckenden wie sympathischen Helden, fiktional erzählt und im Kern doch wahr. Es ist der erste Band einer Rome Escape Line Trilogie, die hoffentlich bald eine Fortsetzung findet.
Joseph O’Connor: In meines Vaters Haus. Aus dem Englischen von Susann Urban. C.H.Beck 2023 www.chbeck.de
Wo der Schwede Alex Schulman als Autor draufsteht, ist zuverlässig das Thema dysfunktionale Familie drin. Obwohl es sich bei seinem sechsten Roman Endstation Malma eindeutig um Fiktion handelt, sind viele Splitter und Spuren aus seinen autobiografischen Werken zu finden. Sie zu entdecken, hat mir beim Lesen Freude gemacht, notwendig zum Verständnis ist dies jedoch nicht.
Alles läuft in Malma zusammen Drei Generationen nehmen den Zug ins abgelegene, verlassene Örtchen Malma, mehrere Stunden von Stockholm entfernt. Sie reisen nicht gleichzeitig, wie man zunächst glaubt, sondern im Abstand vieler Jahre. Drei Namen stehen abwechselnd über den 28 Kapiteln: Harriet, Oskar und Yana. In den 1970er-Jahren fährt Harriet mit ihrem Vater Bo zu einem Begräbnis dorthin, 2001 ist Harriets Ehe am Ende, trotzdem überredet sie ihren Mann Oskar, sie nach Malma zu begleiten, und etwa fünfzig Jahre nach der ersten Fahrt versucht deren Tochter Yana dort, Antworten auf ihre Fragen zu finden. Mit den Perspektivwechseln verschwimmen – sicher vom Autor beabsichtigt – Generationen und Zeitebenen, alles scheint parallel zu verlaufen und man braucht beim Lesen viel Konzentration. Harriets Ur-Katastrophe, als beide Eltern bei der Scheidung ihre Schwester präferierten, zerstörte sie, ließ sie den falschen, da ebenfalls traumatisierten Partner wählen und setzte sich generationenübergreifend fort. Was wird aus einem verschmähten Kind? Wie stark prägt die Kindheit unser Verhalten? Welchen Folgen hat es, wenn Väter ihre Liebe nicht zeigen können und Mütter verschwinden? Wann verliert man sein Kind? Und: Welches Geheimnis liegt in Malma begraben?
Düster, aber nicht hoffnungslos
Alex Schulman, Bestsellerautor in Schweden und mittlerweile vielfach übersetzt, Blogger, Podcaster und Regisseur seines eigenen Theaterstücks am Königlichen Dramatischen Theater Stockholm, verhehlt nicht, dass sein Schreiben selbsttherapeutische Bedeutung hat. Harriets Mantra „You are not alone“ vermag hoffentlich Betroffene aus desolaten Familien stützen. Mich als Nicht-Betroffene setzt die Schulmansche Literatur Erfahrungen aus, die ich sonst eher meiden würde, lässt mich in eine dunkle, verstörende Welt blicken und schafft Verständnis für Verhaltensmuster traumatisierter Menschen. Was Alex Schulmans Bücher über andere, nicht weniger düster-dramatische Kindheits-Literatur hinaushebt, ist sein außergewöhnlich scharfer Blick für kindliche Verletzlichkeit und Sensibilität und die lebenslang offenen Wunden durch Nichtbeachtung und Zurückweisung. Weder Harriets Taktik der beständigen Rückschau, noch Oskars Versuch, die Vergangenheit abzuhaken, die Opferrolle abzustreifen und in die Zukunft zu blicken, vermag zu befreien, und so wird das Trauma an die Tochter Yana weitergereicht. Dass bei ihr zuletzt zarte Hoffnung auf Versöhnung aufkeimt, ist der Lichtblick im Roman.
Puzzlestein für Puzzlestein
Man kann Endstation Malma die auffällige Konstruktion vorwerfen oder das offensichtliche Bestreben, alle Leserinnen und Leser für das Thema zu gewinnen, auch mit Einsatz von Thriller-Elementen. Nichts davon hat mich gestört. Mir gefallen die Virtuosität, mit der Alex Schulman die Puzzlesteine ineinanderfügt, seine Fähigkeit, schleichendes Unbehagen zu erzeugen und sein eleganter Stil. Vorzüglich gelingt der Übersetzerin Hanna Granz die Übertragung der klaren, wohlklingenden Melodie des schwedischen Originals. Wie gut allerdings, dass den unerträglichen Schockmomenten und verstörenden Grausamkeiten so wunderbare Beobachtungen aus dem Zugfenster wie diese gegenüberstehen:
Aus dem Lautsprecher eine Durchsage, der Streckenabschnitt vor ihnen sei eingleisig, sie müssten auf einen entgegenkommenden Zug warten. Sie stehen inmitten einer Wiese, die Blumen reichen den Leuten bis zum Kinn. Wenn der Sommer noch ein paar Zentimeter ansteigt, ertrinken sie. (S. 16)
Ein Lese-Highlight!
Alex Schulman: Endstation Malma. Aus dem Schwedischen von Hanna Granz. dtv 2023 www.dtv.de
Weitere Rezensionen zu Büchern von Alex Schulman auf diesem Blog:
2011 brachte ihr zweiter Roman The Buddha in the Attic der 1962 in Kalifornien als Kind japanisch-stämmiger Eltern geborenen Julie Otsuka den internationalen Durchbruch. Auch ich war 2012 begeistert von der deutschen Übersetzung Wovon wir träumten. Einerseits interessierte mich die Thematik der Japanerinnen, die in den 1920er-Jahren als Bräute für die japanischen Einwanderer in die USA kamen, andererseits erzeugten die Erzählweise aus der Wir-Perspektive, die trotzdem Raum für Einzelschicksale ließ, und der besondere Rhythmus einen ungeheuren Sog.
In dieser Wir-Perspektive, die Julie Otsuka perfekt beherrscht, ist auch die erste Hälfte ihres dritten Romans Solange wir schwimmen verfasst, erneut ausgezeichnet übersetzt von Katja Scholtz.
Im ersten Kapitel, „Das Schwimmbad unter der Erde“, berichtet ein Chor aus Stammgästen eines unterirdischen Swimmingpools von der Leidenschaft für das Schwimmen, von unterschiedlichen Schwimm-Typen, die man selbst bei jedem Schwimmbadbesuch trifft, von strikten Regeln und eingefahrenen Routinen. Noch ist Alice nur eine unter vielen:
Eine von uns – Alice, eine pensionierte Labortechnikerin in einem frühen Stadium von Demenz – kommt her, weil sie schon immer hergekommen ist. Und auch wenn sie sich vielleicht nicht an die Nummer ihres Schließfachs erinnert und daran, wo sie ihr Handtuch hingelegt hat – sobald sie ins Wasser gleitet, weiß sie, was zu tun ist. (S. 9)
„Der Riss“ auf dem Beckengrund, der sich allmählich vervielfacht, unterbricht in Kapitel zwei jäh die Idylle unter der Erde, im Schwimmkollektiv macht sich Verunsicherung breit, Gerüche, Hypothesen und Antithesen kochen hoch. In der Mitte des nur knapp 160 Seiten umfassenden Romans wird das Bad geschlossen, als letzte steigt Alice aus dem Wasser.
In der allgemeinen Trauer trifft der Bruch ihrer Alltagsroutine Alice besonders hart. Auch durch das Buch geht ein Riss und im dritten Kapitel, „Diem Perdidi“, wechselt die Erzählperspektive von „wir“ zum „sie“. Nun erzählt Alice‘ Tochter über ihre Mutter: was diese noch weiß, und welche Erinnerungen ihr aufgrund des Risses im Kopf verlorengegangen sind. Der Humor der ersten beiden Kapitel weicht der Tragik. Diese Rückblicke der Schriftsteller-Tochter haben mir gut gefallen.
Dann allerdings folgte in Kapitel vier, „Belavista“, mein persönlicher Riss, denn in der direkten Ansprache des Pflegeheims an die neue Bewohnerin Alice hat das Buch mich leider verloren. Dieser Abschnitt strotzt vor unerträglichem, überspitztem Zynismus und machte mich wütend. Der geschäftsmäßige Ton der „gewinnorientierte[n] Langzeit-Pflegeeinrichtung“ (S. 88 ) schürt Ängste und setzt Angehörige von Heimbewohnerinnen und -bewohnern unter Rechtfertigungsdruck. Keinerlei Berücksichtigung findet hier, dass Alice für ihre eigene, sehr geliebte Mutter genau diese Einrichtung wählte, und dass nicht jede auf den ersten Blick abschreckende Maßnahme im Umgang mit Dementen falsch ist.
Entsprechend hat mich das abschließende fünfte Kapitel, „EuroNeuro“, geschrieben in einer von sich selbst distanzierenden Du-Perspektive, kaum mehr erreicht. Die Krokodilstränen einer schuldbehafteten Tochter, die jahrelang wenig Kontakt zur Mutter hatte und nun mit ihrem Zu-Spät-Kommen hadert, ließen mich vergleichsweise kalt. Die auf dem Buchrücken postulierte „Liebe einer Tochter“ konnte ich selten entdecken, eher schon berührte mich die stille, hilflose Trauer des Vaters beim allmählichen Verschwinden seiner Frau.
Schade, denn ich hatte mich sehr auf den neuen Roman von Julie Otsuka gefreut. Zwar hat er mit der sprachlichen Verknappung, den wechselnden Erzählperspektiven und dem unverwechselbaren Rhythmus stilistisch meine Erwartungen erfüllt, inhaltlich jedoch leider in den letzten beiden Teilen nicht.
Julie Otsuka: Solange wir schwimmen. Aus dem amerikanischen Englisch von Katja Scholtz. mare 2023 www.mare.de
Vigdis Hjorth, geboren 1959 in Oslo, gehört zu den wichtigsten Gegenwartsautorinnen Norwegens, vielfach ausgezeichnet und übersetzt. Ihr 2016 erschienener Roman Arv og miljø, deutsch Bergljots Familie (2019), veranlasste ihre Schwester zu einem „Gegenroman“ und wurde in Norwegen ebenso bejubelt wie kontrovers diskutiert. Der literarisch aufbereitete Einblick in die eigene Familien mit dem Vorwurf väterlichen Missbrauchs löste bei mir gleichermaßen Sog und Unbehagen über diese Art der „Virkelighetslitteratur“ aus und beschäftigt mich noch immer.
Obwohl das neue Buch Die Wahrheiten meiner Mutter mit dem deutlich drastischeren Originaltitel Er mor død (ohne Fragezeichen), wieder hervorragend übersetzt von Gabriele Haefs, nicht autofiktional ist, weist es doch Parallelen auf. Erneut geht es um Uneinigkeit über die gemeinsame Familiengeschichte und die Gründe für einen Bruch. Zugleich greift die Autorin Aspekte der Debatte um Arv og miljø auf: Dürfen private Erfahrungen und Familieninterna in Kunstwerken verhandelt werden und haben alle Kunstwerke einen autobiografischen Kern?
Das Verhältnis eines Werkes zur Wirklichkeit ist uninteressant, das Verhältnis eines Werkes zur Wahrheit ist entscheidend, der Wahrheitswert eines Werkes liegt nicht in seinem Verhältnis zur Wirklichkeit, sondern in seiner Wirkung auf die, die es betrachten. (S. 312)
Flucht
Die bildende Künstlerin Johanna Hauk verteidigt die Kunstfreiheit im Roman vehement. Sie hat vor 30 Jahren ihren Mann, ihre Eltern, ihre Schwester Ruth und ihr Jurastudium zurückgelassen und ist dem Kunstlehrer Mark, der ihrem zweiten Ehemann, nach Utah gefolgt. Inzwischen stellt sie überall auf der Welt erfolgreich ihre Bilder aus. Ihre Eltern haben Mark und ihren Sohn John nie kennengelernt. Als Johanna nicht zur Beerdigung des Vaters kam, dann aber bei einer Ausstellung in Oslo ihre Triptychen „Kind und Mutter“ gezeigt wurden, die die Familie als Provokation auffasste, brach der Kontakt gänzlich ab.
Rückkehr
Nun ist sie, inzwischen verwitwet, erstmals zur Vorbereitung einer Retrospektive in ihre Heimatstadt zurückgekehrt und hofft auf ein Gespräch mit ihrer betagten Mutter. Doch die hebt das Telefon nicht ab, antwortet nicht auf Textnachrichten. Verhindert die Schwester, wie Johanna sich einzureden versucht, die Kontaktaufnahme?
Je mehr Mutter und Schwester sich verweigern, desto obsessiver werden Johannas Bemühungen. Sie beobachtet die Wohnung der Mutter, schleicht sich ins Treppenhaus, folgt ihr, wenn sie mit Ruth das Haus verlässt, und filzt ihren Müll.
Zugleich kehren Kindheitserinnerungen zurück. Wann übernahm die zuvor zugewandte Mutter die spöttisch-ablehnende Haltung des Vaters zum Zeichentalent der Tochter? Immer verzweifelter sucht Johanna nach Beweisen, dass der Schmerz der Mutter lange vor der Flucht der Tochter begann. Hat sie nicht ihre Qualen durch eine immer größere Anpassung an den dominanten Vater kompensiert, die sie auch ihren Töchtern auferlegte? Doch was ist Erinnerung, was Fantasie?
Mutters Mysterium ist mein Mysterium und das Rätsel meines Daseins, und ich fühle, dass ich nur in der Annäherung an dieses Mysterium eine Form von existenzieller Erlösung erreichen kann. (S. 360)
Eine Hütte im Wald wird zu Johannas Flucht- und Ruhepunkt.
Ein packender Monolog In knappen Sequenzen mit manchmal nur einem oder wenigen kurzen Sätzen pro Seite folgen wir der Ich-Erzählerin auf der Suche nach Erlösung. Immer wieder zitiert sie Henrik Ibsen, Søren Kierkegaard, Marguerite Duras oder die Bibel, reflektiert Muttersein und Familiendynamik. Parallelen zur grandiosen Natur rund um die Hütte drängen sich auf.
Trotz kleinerer Längen im Mittelteil hat mich dieser 400 Seiten umfassende, präzise formulierte, in einem furiosen Finale mündende innere Monolog begeistert. Zu Recht stand der Roman 2023 auf der Longlist zum International Booker Prize.
[…] wenn ein Mann einen Tag als Frau in Amerika verbringen müsste, würde er gerade mal bis Mittag überleben. (S. 382)
Die 1950er-Jahre waren in den USA geprägt durch den wirtschaftlichen Nachkriegs-Boom, den Beginn des Kalten Kriegs, die aufkommende Bürgerrechtsbewegung und den Kampf gegen den Kommunismus. In den Familien waren die Rollen klar verteilt, weibliche Wissenschaftskarrieren nicht vorgesehen.
Elisabeth Zott, die selbstbewusste und beharrlich um ihre Rechte als weibliche Wissenschaftlerin kämpfende Heldin des Debütromans Eine Frage der Chemie der 1957 in Kalifornien geborenen Wissenschaftsjournalistin Bonnie Garmus kann und will die bestehende Rollenverteilung nicht akzeptieren. Sie hat Chemie studiert und pocht auf gleiche Wertschätzung ihrer Fähigkeiten wie bei ihren männlichen Kollegen:
DummeVorurteile gegenüber Geschlecht und Rasse hindern viel zu viele kluge Köpfe an wissenschaftlicher Forschung. Das empört mich, und es sollte Sie empören. (S. 392)
Im Haifischbecken
Elisabeth scheitert bereits bei ihrer Promotion, als sie sich gegen die sexuellen Übergriffe ihres Professors zur Wehr setzt, später leidet sie im Forschungsinstitut Hastings unter fortgesetzten Demütigungen, zotigen Kommentaren, weiteren körperlichen Übergriffen und dem Diebstahl ihrer Forschungsergebnisse durch die rein männliche Kollegenriege. Kurz scheint sich ihr Schicksal zu wenden, als sie dem seelenverwandten Chemikergenie Calvin Evans begegnet, einem Außenseiter mit Nobelpreisaussichten und einer ähnlich traumatischen Kindheit. Beide achten und befeuern sich gegenseitig in ihrer Kreativität und Schaffenskraft, bis ein Unglück die Beziehung jäh beendet. Unehelich schwanger verliert Elisabeth, die nie Kinder wollte, Mitte der 1950er-Jahre ihre Anstellung, schließlich muss das Institut auf seinen Ruf achten…
Kochen ist Chemie Es folgen schwierige Jahre für die alleinstehende Mutter, auch wenn die patente Nachbarin Harriet Sloane und der märchenhaft intelligente Familienhund Halbsieben sie bei der Erziehung ihrer hochbegabten Tochter Madeline tatkräftig unterstützen. Da tut sich 1961 plötzlich eine neue Chance auf: Durch einen Zufall wird Elisabeth eine Kochsendung im Fernsehen angetragen, die sie ohne rechte Begeisterung aus Geldnot übernimmt. Aber Elisabeth Zott wäre nicht sie selbst, würde sie sich in einer Hausfrauenschürze vor die Kamera stellen und lächelnd die redaktionell vorbereiteten Texte sprechen. „Essen um sechs“ wird nicht nur zur ungewöhnlichsten, sondern schnell auch zur beliebtesten Kochsendung, denn zum Entsetzen ihrer Vorgesetzten gibt es bei der „leckeren Lizzie“ nicht nur Kochrezepte, sondern viel Chemie und noch mehr lebenspraktische Ratschläge:
Fordern Sie sich heraus, Ladys. Nutzen Sie die Gesetze der Chemie und verändern Sie den Status quo. (S. 426)
Ein Welterfolg Lessons in Chemistry kam im Frühjahr 2022 weltweit gleichzeitig auf den Markt und hat sich bis heute in über 40 Sprachen mehr als sechs Millionen mal verkauft. Allein in der deutschen Übersetzung von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann als Lieblingsbuch der Unabhängigen 2022 waren es über 700.000 Exemplare. Witzig, mitreißend, spannend und als klares Statement gegen Sexismus ist der Roman leider in Teilen immer noch aktuell. Die Geschichte um die gleichermaßen hochbegabte wie alltagsfremde, durch und durch logisch denkende Wissenschaftlerin hat mich vor allem in der ersten Hälfte mitgerissen, während mir die zweite dann doch in Teilen etwas zu turbulent und aberwitzig wurde. Ein trotz dieser kleinen Einschränkung sehr empfehlenswertes und originelles Lesevergnügen!
Bonnie Garmus: Eine Frage der Chemie. Übersetzung aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Piper 2022 www.piper.de
Weitere Rezensionen zu Büchern mit dem Prädikat „Lieblingsbuch der Unabhängigen“:
Die 1881 aus der mittelnorwegischen Region Trondheim in die USA ausgewanderte Belle Gunness gilt als eine der berüchtigsten Serienmörderinnen ihrer Zeit. Ihre Geschichte diente schon häufig als Stoff für Unterhaltungsliteratur, Feuilleton, Spielfilme und Dokumentationen. Nun hat die 1985 geborene norwegische Autorin Victoria Kielland ihr Leben als Vorbild für den Roman Meine Männer gewählt, weder als Biografie noch als True Crime, sondern, wie sie selbst sagt, als „eine literarische Fantasie, frei inspiriert von tatsächlichen Geschehnissen“ (S. 187)
Von Brynhild… Unvorstellbare Gewalt erfährt die 1859 als Brynhild geborene Frau in Kiellands Roman. 17-jährig hat sie als Dienstmädchen eine Liaison mit dem Hoferben und wird schwanger. Sie verliert das Kind durch seine Tritte mit Lederstiefeln in ihren Bauch.
… zu Bella… Traumatisiert und unwillig, die Armut auf dem elterlichen Hof zu ertragen, bricht sie zu ihrer Schwester Nellie nach Chicago auf. Nach dem Zerwürfnis mit ihr und der Heirat mit dem Landsmann Mads Sørensen nennt sie sich Bella Sørensen. Kurz nachdem das Paar mehrere Pflegekinder aufgenommen hat, beginnt die Reihe mysteriöser Todesfälle in ihrem Umfeld, zunächst Pflegekinder und zwei Ehemänner.
… und schließlich zu Belle
Als zweifache Witwe sucht sie, inzwischen Belle Gunness, gezielt vermögende Männer in der norwegisch-sprachigen Zeitung Skandinaven. Mit herzzerreißenden Liebesbriefen lockt sie ihre Opfer auf ihren Hof in La Porte, Indiana. Nach einem Brand 1908 werden Teile von etwa 30 zerstückelten Leichen sowie drei tote Kinder und eine Frauenleiche ohne Kopf gefunden.
Der Roman beantwortet die bis heute ungeklärte Frage, ob es sich bei der Frauenleiche um Belle handelt, die ihrem langjährigen Hofknecht Ray Lamphere zum Opfer fiel, oder ob ihr die Flucht gelang: Zu Beginn sitzt sie in der „Stadt der Engel, Kalifornien, 1915“ am Kamin und sinnt:
… wer mit ganzem Sein liebt, wird die Liebe nicht überleben. (S. 12)
Enttäuschte Erwartungen Meine Männer ist nach einem Kurzgeschichtenband und einem Roman das dritte Buch der vor allem für ihren besonderen Schreibstil mit den „kiellandesken Sätzen“ (Jury des Stig Sæterbakken Memoral Award) von der Literaturkritik gefeierten Autorin. Tatsächlich hat mich diese außergewöhnliche Erzählweise in der Leseprobe zunächst begeistert und zusammen mit dem auffälligen Cover überzeugt. Die Schilderung von Brynhilds die gesellschaftlichen Grenzen überschreitender Affäre, ihr Ehrgeiz, ihre Zweifel, ihr Glühen, die „Millionen magischer Momente“ (S. 22) in ihrer Dachkammer, das Pendeln zwischen Genuss, Gewalt, Hoffnung und Angst haben mir gut gefallen. Allerdings wurde mir der Stil in der Folge zunehmend zu verschwurbelt und schien mir immer unpassender zur Handlung, l’art pour l’art in pseudo-bedeutungsschwangeren Phrasen, über deren Entschlüsselung ich nicht mehr vergeblich rätseln wollte. Das Übermaß an Metaphern und geschraubten Satzkonstrukten mit der ständige Wiederholung der Begriffe „Ritzen“ und „Spalten“ hat mich irgendwann nur noch genervt und ich war froh, als ich die 184 Seiten beendet hatte. Auch das Cover erschließt sich mir im Nachhinein nicht, obwohl der Schmetterling in einem für den Text typischen Satz vorkommt:
Und die anhaltendste Bewegung war weder Sehnsucht noch Liebe, sondern das Schlagen der Schmetterlingsflügel im Garten, war der Tod, das Auge, das dauernd Blickkontakt aufnahm, das anhaltendste, ewige Flimmern. (S. 157)
Wer hier die Faszination der Literaturkritik teilt, trifft mit dem Roman die richtige Wahl. Mir hat das Buch leider nicht die erhoffte Einsicht in die Psyche einer Serienmörderin eröffnet und ich war insgesamt sehr enttäuscht.
Victoria Kielland: Meine Männer. Aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger. Tropen 2023 www.klett-cotta.de
Was geschieht Anfang der 1940er-Jahre mit schwarzen Mädchen in Lorain, Ohio, dem Geburtsort der Autorin Toni Morrison (1931 – 2019), wenn Shirley Temples blonde Locken und blaue Augen als ultimatives Schönheitsideal gelten? Wenn die Bonbonverpackung ein ebensolches Kind ziert, sie beim Einkaufen übersehen werden und die Lehrerin hellere Kinder bevorzugt? Wenn die eigene Mutter sie für hässlich hält, während sie die Kinder ihrer weißen Arbeitgeberfamilien vergöttert? Wenn sie zu Weihnachten blonde, blauäugige Babypuppen bekommen?
Claudia, Frieda, Pecola Ins Zentrum ihres Debütromans Sehr blaue Augen, erstmals 1970 als The Bluest Eye erschienen und 2023 in deutscher Neuübersetzung von Tanja Handels im Verlag Rowohlt wieder aufgelegt, stellt die 1993 als erste schwarze Frau mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Toni Morrison drei Mädchen. Jede leidet auf ihre Art unter dem Trauma ihrer vermeintlichen Hässlichkeit. Claudia Mac Teer, die temperamentvolle Neunjährige und Ich-Erzählerin der ein Jahr umfassenden Rahmenhandlung, entzieht sich dem allgemeinen Zauber, zerstört die verhassten Puppen und würde in ihrer Wut am liebsten dasselbe mit weißen Mädchen tun. Ihre um ein Jahr ältere, besonnenere Schwester Frieda verehrt zwar Shirley Temple, kommt aber dank ihres Elternhauses besser zurecht als die elfjährige Pecola Breedlove, die aus weit ärmlicheren, liebloseren Verhältnissen stammt und in einem heruntergekommenen Ladenlokal ein freudloses, einsames Dasein fristet:
Sie wohnten dort, weil sie arm und Schwarz waren, und sie blieben dort, weil sie sich für hässlich hielten. Ihre Armut war althergebracht und lähmend, aber keineswegs einzigartig. Ihre Hässlichkeit hingegen schon. Niemand hätte sie davon überzeugen können, dass sie nicht auf schonungslose und aggressive Weise hässlich waren. (S. 58)
Für die permanent gedemütigte Pecola, die im Laufe des Romans – wie man sofort erfährt – von ihrem eigenen Vater ein Baby bekommt, wird der Wunsch nach blauen Augen zur Obsession:
Schon vor geraumer Zeit war Pecola zu dem Schluss gekommen, wenn nur ihre Augen anders wären, […], genauer gesagt: schön, dann wäre auch sie selbst ganz anders. […] Jeden Abend, ausnahmslos, betete sie um blaue Augen. (S. 67/68)
Unterschiedliche Zeitebenen und Erzählperspektiven
In die Rahmenhandlung eingeschoben sind Einblicke in Lebensläufe von Erwachsenen, rechtlosen schwarzen Frauen und Männer, die erlebte Ohnmacht in Gewalt gegen ihre Frauen und Kinder ummünzen.
Der schwarzen Lebenswirklichkeit stellt Toni Morrison kurze Textschnipsel aus einer US-Fibel über die Bilderbuchwelt einer weißen Mittelschichtfamilie gegenüber.
Ein Roman mit Erkenntnisgewinn Nicht „bequeme Ausflucht ins Mitleid“ (S. 11) wollte Toni Morrison laut ihrem Vorwort von 2008 auslösen, sondern die schwarze Leserschaft „zu einer Reflexion ihrer eigenen Rolle“ (S. 11) zwingen. Im ebenso exzellenten Nachwort schildert die afrodeutsche Autorin Alice Hasters, wie das bei ihr gelang, als ihr die Mutter mit 13 Jahren den Roman gab:
Das Buch setzte meiner Sehnsucht, weißer auszusehen, etwas entgegen. So blieb es bei einem heimlichen Wunsch, den ich mit meinem Spiegelbild teilte, und wuchs nicht weiter in ein verzweifeltes Verlangen, das meinen Alltag diktierte. (S. 266)
Obwohl ich nicht zur Haupt-Zielgruppe gehöre, hat mir dieser gar nicht plakative Roman, der zum aufmerksamen Lesen und Nachdenken zwingt, großen Erkenntnisgewinn beschert. Nicht nur als Signal gegenüber der weißen Bevölkerung, wie ich bisher dachte, sondern als Aufforderung zu schwarzem Selbstbewusstsein war der Slogan „Black is beautiful“ der Bürgerrechtsbewegung ab 1966 gedacht. Die in der Neuübersetzung gewählte Großschreibung des Adjektivs „schwarz“ schafft in meinen Augen allerdings neue Unterschiede anstatt Diskriminierung abzubauen. Dass aber, wie Claudia und Frieda erkennen, für manche Blumen der Boden nicht taugt und deshalb ausgetauscht oder verändert werden muss, ist die zweifellos zeitlose Quintessenz dieses herausragenden modernen Klassikers.
Toni Morrison: Sehr blaue Augen. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Mit einem Nachwort von Alice Hasters. Rowohlt 2023 www.rowohlt.de
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