Wer einmal mit dem Morden anfängt…
Drei lange Jahre musste ich auf die Fortsetzung der Clara-Lofthus-Trilogie der preisgekrönten norwegischen Lyrikerin und Kinderbuchautorin Ruth Lillegraven warten, nun endlich liegt der heiß ersehnte zweite Band Dunkler Abgrund vor. Gewechselt hat der Übersetzer: von Hinrich Schmidt-Henkel zu Günther Frauenlob. Obwohl man Band eins, Tiefer Fjord, nicht unbedingt kennen muss, empfehle ich es trotzdem dringend, denn zahlreiche interessante Details aus Claras Vergangenheit erschließen sich nur durch den Vorgängerband.
Viele Erzählstimmen
Der Aufbau der beiden Bände ist nahezu identisch: ein kurzer Prolog, 75 Kapitel aus verschiedenen Ich-Perspektiven und in Teil zwei zusätzlich ein Epilog.
Dunkler Abgrund beginnt dort, wo Tiefer Fjord endete: kurz nach dem Tod von Clara Lofthus‘ Ehemann, dem Kinderarzt Haavard Fougner, den die trainierte Schwimmerin in die gefährliche Strömung eines Bergsees lockte. Wenig später wird sie zur Justizministerin Norwegens berufen, zeitgleich entdecken Taucher in ihrem tiefen Heimatfjord den Unfallwagen, mit dem die damals Zwölfjährige und Magne, der Partner ihrer Mutter, 1988 verunglückten.
Mehr Ministerin als Mutter
Ohne ihren Mann ist Clara, nach eigenem Bekunden „kein Naturtalent als Mutter“ (S. 102), plötzlich allein verantwortlich für die etwa zehnjährigen Zwillinge Andreas und Nikolai. Die beiden Papakinder leiden sehr unter dem Tod ihres Vaters, den die kühle, zudem meist abwesende Mutter nicht ersetzen kann:
Papa war immer fröhlich und leicht wie ein Sommertag. Mama versucht, Sommer zu sein, ist aber eigentlich Winter. (Andreas, S. 272)
Clara sieht, wenn auch mit schlechtem Gewissen, ihre Prioritäten im Ministerium. Traumatisiert vom Tod ihres eigenen kleinen Bruders, dem sie als Kind nicht helfen konnte, hat sie sich dem Kampf gegen Kindesmisshandlung verschrieben:
Ich habe eingewilligt, Staatssekretärin und schließlich Ministerin zu werden, um etwas zu erreichen und dafür zu sorgen, dass das, was mit Lars passiert ist, keinem anderen Kind passiert. (Clara, S. 118)
Für dieses Ziel schreckt die intelligente, kontrolliert-distanzierte Frau mit der komplizierten Persönlichkeitsstruktur, in deren früherem und jetzigem Leben es vor Todesfällen und Tragödien nur so wimmelt, vor nichts zurück.
Alles gerät aus den Fugen
Daran gewöhnt, alles selbst zu regeln, lehnt Clara Personenschutz, häusliche Überwachung und professionelle Kinderbetreuung ab. Doch dann geschehen seltsame Dinge, die Geheimnisse aus ihrer Vergangenheit drohen sie einzuholen und schließlich sind sogar ihre Kinder verschwunden. Die Spur führt nach Westnorwegen ins Dorf ihrer Kindheit. Obwohl sie nur schlecht Hilfe annehmen kann, ist sie nun auf die Unterstützung ihres neuen Chauffeurs Stian angewiesen, der sich als heimlich platzierter Leibwächter und ebenso bedingungsloser wie unkonventioneller Unterstützer entpuppt:
Man muss tun, was richtig ist, auch wenn das Richtige nicht unbedingt den Regeln entspricht. (Stian, S. 252)
Wie Tiefer Fjord hat auch Dunkler Abgrund viel Dynamik, vor allem durch die kurzen Kapitel aus wechselnden Perspektiven. Mit seinen unvorhersehbaren Wendungen und der perfekt konstruierten Handlung, realistisch oder nicht, hat mich der zweite Teil fast ebenso gut unterhalten wie der erste. Die Einblicke in den norwegischen Verwaltungs- und Politikbetrieb, den die Autorin aus langjähriger Arbeit im Verkehrsministerium kennt, und traumhafte Beschreibungen ihrer westnorwegischen Heimat sind für mich die Besonderheiten dieser Mischung aus Psychothriller und Familiendrama, auf deren Abschlussband ich ungeduldig warte.
Ruth Lillegraven: Dunkler Abgrund. Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob. List 2024
www.ullstein.de/verlage/list
Weitere Rezension zu einem Thriller von Ruth Lillegraven auf diesem Blog: