Frank Kauffmann & Beate Fahrnländer: Tsozo und die fremden Wörter

Wie die Wörter zu uns kommen

Tsozo ist mit seinen Eltern in ein deutschsprachiges Land eingewandert. Fern der vertrauten Umgebung, der Verwandten und Freunde fühlt er sich sehr einsam, vor allem, weil er die neue Sprache nicht versteht. Ein Telefonat mit seiner Großmutter und ihr Rat, die neue Sprache einfach zu sich kommen zu lassen, Geduld zu üben und die Ohren zu spitzen, macht ihm Mut. Und siehe da, das erste Wort findet auf dem Spielplatz zu ihm: „Tor“. Und als die erste Hürde genommen ist, folgen weitere Wörter, im Text jeweils rot abgedruckt. Doch nicht nur Tsozo ist aufgeschlossen, auch die anderen Kinder gehen offen auf ihn zu und beziehen ihn ganz unvoreingenommen ein. Als eine Notsituation eintritt, kann er mit seinem gelernten Vokabular bereits Hilfe holen und wird zum Retter und Helden.

Tsozos Familie ist keine der Flüchtlingsfamilien, die im Moment in Deutschland in Massenunterkünften unterkommen, sondern zieht sofort in eine eigene Wohnung und scheint finanziell abgesichert zu sein. Der Autor Frank Kauffmann verzichtet sicher bewusst auf Tsozos Vorgeschichte und konzentriert sich ausschließlich auf die Themen Spracherwerb und Integration, um die kleinen Leserinnen und Leser nicht zu überfordern. Dies finde ich sehr gut gelungen.

Durch die große Schrift, wenig Text und die ausgesprochen reiche, durchgehend farbige und sehr kindgerechte Illustrierung ist das Buch für Kinder ab ca. dem zweiten Schuljahr selbständig zu bewältigen. Gleichzeitig eignet es sich jedoch auch schon für Fünfjährige zum Vorlesen und kann bei älteren Migrantenkindern eingesetzt werden.

Für mich war dies das erste Kinderbuch aus dem Schweizer Verlag Orell Füssli und es hat mir sowohl von der Bearbeitung des Themas als auch von der Ausstattung her ausnehmend gut gefallen.

Frank Kauffmann & Beate Fahrnländer: Tsozo und die fremden Wörter. Orell Füssli 2015
ofv.ch

Horst Eckert: Sprengkraft

Ein explosiver Politkrimi

Drei Handlungsstränge fügt der studierte Politikwissenschaftler und Fernsehjournalist des WDR Horst Eckert gekonnt zu einem spannenden Thriller zusammen.

Da sind einmal die beiden Polizisten Martin Zander und Anna Winkler, die in einem ungelösten Altfall, einem „Cold Case“, im Drogenmilieu ermitteln, bei dem es offensichtlich in Polizeikreisen einen Maulwurf gab.

Bei ihren Ermittlungen stoßen sie auf den Bruder eines ermordeten marokkanischen Dealers, der sich zu einem radikal-islamischen Fundamentalisten entwickelt hat und zusammen mit Gleichgesinnten einen Bombenanschlag plant.

In einem dritten Handlungsstrang wird der arbeitslose Journalist Moritz Lembke von einem Düsseldorfer Baulöwen damit beauftragt, der rechtspopulistischen, anti-islamischen Partei „Die Freiheitlichen“ mit Hilfe einer  CDU-Aussteigerin ein demokratisches Etikett zu verpassen und sie in den Landtag von NRW zu bringen. Der Bau der Kölner Moschee soll verhindert werden.

Ein überaus spannender Krimi mit kurzen Kapiteln aus wechselnden Perspektiven und einer hochaktuellen Thematik und einer Prise Satire!

Horst Eckert: Sprengkraft. grafit 2011
www.grafit.de

Karla Schneider: Die Geschwister Apraksin

Fünf Kinder in den Wirren der Russischen Revolution

Russland 1918/19. Die fünf Kinder der Moskauer Kaufmannsfamilie Apraksin sind elternlos geworden. Ihr Besitz soll von den neuen Machthabern konfisziert und sie selbst in verschiedenen Kinderheimen untergebracht werden. Doch sie sind nicht bereit, sich in ihr Schicksal zu ergeben.

Mit nichts als den Kleidern auf dem Leib, je einem kleinen Gepäckstück und wenigen Goldkopeken fliehen sie nachts mit einer Schauspielertruppe. In einem Eisenbahnwagon mit Demobilisierten erreichen sie nach wochenlanger Irrfahrt Rostow am Don, wo die jüngste und die älteste Schwester verloren gehen. Zu dritt geht es weiter auf die Krim. Bei Jalta finden Polly, Ossja und Fedja Unterschlupf in einer Schule für obdachlose Kinder. Als der Terror auch dorthin gelangt, kehren sie auf abenteuerlichen Wegen zurück ins Moskau der Schieberkönige und Emporkömmlinge.

Karla Schneider hat auf fast 600 Seiten ein durchweg spannendes Jugendbuch voller unglaublicher, haarsträubender, trauriger, aber manchmal auch komischer Abenteuer geschrieben, das vom Überleben in einer Zeit des völligen gesellschaftlichen Umbruchs erzählt. Dabei ist es ihr gelungen, alle Haupt- und Nebenfiguren so lebendig zu gestalten, dass sie uns schnell vertraut werden.

Karla Schneider: Die Geschwister Apraksin. dtv 2011
www.dtv.de

Jean Renard: Der Kopf des Korsen

Weit mehr als ein gewöhnlicher Regionalkrimi

Jacques Andreotti, verwitwet und alleinerziehender Vater einer pubertierenden Tochter, Pariser Polizist mit korsischen Wurzeln, erschlägt im Dienst den Sohn des Pariser Paten Guido deFrancesco und enttarnt dabei unfreiwillig den jungen Undercover-Ermittler Andrea Lefèvre. Da ein Kopfgeld auf beide ausgelobt wird, müssen sie untertauchen. Um ihnen das Zeugenschutzprogramm zu ersparen, versetzt der Pariser Polizeichef sie als Sonderermittler im Falle eines Polizistenmords, der vermutlich aus einer Vendetta zwischen zwei verfeindeten Clans resultiert, nach Korsika, nicht ohne zuvor falsche Spuren zu legen und beide mit den neuesten technischen Raffinessen auszustatten.

Während Andreotti, dessen Tochter auf Korsika die Ferien bei ihrer kauzigen Großmutter verbringt, die Zwangsversetzung noch einigermaßen akzeptiert, ist der junge Lefèvre von der Verbannung geschockt. Obwohl clever und draufgängerisch, kommt er mit den Korsen und Andreottis Ermittlungsmethoden schlecht zurecht, grollt ihm wegen der Enttarnung und verdächtigt ihn sogar der Bestechlichkeit.

Ich habe diesen Krimi ursprünglich wegen des Handlungsorts Korsika in die Hand genommen, den ich aus mehreren Urlaubsaufenthalten einigermaßen gut kenne. In dieser Beziehung bin ich voll auf meine Kosten gekommen, denn Land und Leute, Geografie, Stimmungen und das Meer sind wunderbar anschaulich beschrieben. Das Buch geht jedoch mit seiner komplexen Handlung, die auch auf fast 500 Seiten durchweg gut unterhält, weit über einen gewöhnlichen Regionalkrimi hinaus. Von der großartig atmosphärischen Schilderung der Beerdigung eines Clanmitglieds im (fikitiven) Ort La Rocca, während der auf dem leeren Dorfplatz ein Polizist aus dem anderen Clan ermordet wird, bis zum langen, unglaublich spannenden Showdown auf den Klippen, unter Wasser und in der Luft bleibt die Spannung auf hohem Niveau. Dabei verzichtet der deutsche Autor und Journalist Jean Renard (d.i. Hans Fuchs) dankenswerterweise trotz zahlreicher Toter auf unnötig blutige Details. Sehr detailliert und beim Lesen eines der absoluten Highlights sind dagegen seine  Charakterbeschreibungen, egal ob es sich dabei um die Hauptfiguren Andreotti und Lefèvre, die von den Schatten ihrer Vergangenheit heimgesucht werden, oder um Nebenfiguren wie Andreottis bissige Schwiegermutter, seinen Freund Roland, Ex-Legionär und Inhaber einer Tauchschule, seine Tochter Cécile, die Clanmitglieder, der Dorfpolizist von La Rocca, die Restaurantbesitzer Paul et Paul oder jede andere Figur handelt.

Ein großartiger Krimi, der eine Fortsetzung unbedingt erforderlich macht!

Jean Renard: Der Kopf des Korsen. Emons 2015
www.emons-verlag.de

Paula Fox: Pech für George

Ein Roman über das Leben in den USA der 1960er-Jahre

George Mecklin, 34, ist Lehrer an einer Privatschule in Manhattan und von seinem Beruf und seiner Ehe gleichermaßen gelangweilt. Der Umzug aufs Land, den er „glaubte machen zu müssen“, hat diese Langeweile bis ins Unerträgliche verschärft. Mit seiner Frau Emma verbindet ihn nur noch eine beinahe sprachlose Gleichgültigkeit.

Rettung scheint ihm der 17-jährige Ernest Jenkins zu bringen, ein Jugendlicher aus dem Nachbarort, Schulabbrecher und Mitglied einer Jugendgang, den er beim Eindringen in sein Haus erwischt. Anstatt ihn, wie Emma es vehement fordert, der Polizei zu übergeben, beschließt George, ihn zu retten. Er will ihn unterrichten, sein Leben in die Hand nehmen – und damit seinem eigenen Leben wieder einen Sinn geben.

Pech für George ist Paula Fox erster Roman aus dem Jahr 1967. Lebendig
und mit z. T. beißender Ironie erzählt Paula Fox vom Scheitern ihrer Figuren, die alle eher von ihren eigenen Katastrophen erzählen als dem anderen zuzuhören.

Paula Fox: Pech für George. dtv 2006
www.dtv.de

Petra Kasch: Mia und das Wolkenschiff

Neubeginn, Mut, Freundschaft und kleine Lügen

Mia segelt – wie auf dem Cover – oft und eher unfreiwillig in wilder See.

Zunächst ist wieder einmal ein Umzug angesagt, dieses Mal nicht, weil Mias Mutter, die Bauingenieurin, irgendwo eine Brücke bauen soll, sondern weil die  Familie ein Haus mit einem Leuchtturm direkt an der Ostsee geerbt hat. Mias Vorfreude ist getrübt: Sie hasst es, neu in eine Klasse zu kommen, und sie hat Angst vor dem Wasser. Dabei hat sie ihren Eltern erzählt, dass sie schwimmen kann und bereits eine Medaille gewonnen hat.

Als sie ankommen, finden sie nichts als Probleme vor: Das Haus, das die Nachbarn Geisterhaus nennen, erweist sich als baufällig und soll abgerissen werden, immer wieder taucht eine geheimnisvolle Gruppe alter Männer mit einem Käpt’n auf, die Ansprüche auf  das Haus erheben, und die neue Klasse möchte an einem Schwimmwettbewerb teilnehmen und freut sich sehr, dass eine so gute Schwimmerin wie Mia ihr Team komplettiert…

Mias großes Glück ist es, dass sie Menschen um sich hat, die auch in schlechten Zeiten zu ihr stehen. Ein verständnisvoller Lehrer, ihre Eltern, ihr neuer Freund Lars, der den Traum vom Olympiaschwimmer träumt, und die Mitschüler halten auch nach der Entlarvung ihrer Lüge zu ihr. Und als sie sich immer mehr in das alte Haus verliebt, erfahren sie Hilfe von ungeahnter Seite. Schließlich kann Mia sogar noch allen beweisen, dass es ihr gewiss nicht an Mut fehlt.

Mia und das Wolkenschiff ist ein behutsam geschriebenes Kinderbuch mit vielen sympathischen, liebevoll beschriebenen Figuren, das an vielen Stellen zu Gesprächen mit Kindern einlädt. Es ist aber auch spannend, ein bisschen gruselig und erzählt viel über das Meer, seine Schönheit und seine Gefahren. Mit den sehr kurzen Kapiteln und der etwas größeren Schrift kommen kleine Leserinnen und Leser ab ca. acht Jahren zurecht. Schade nur, dass durch den Titel und das an sich gelungene Cover vermutlich nur Mädchen angesprochen werden, denn das Buch eignet sich meiner Meinung nach genauso für Jungs!

Petra Kasch: Mia und das Wolkenschiff. Ravensburger 2015
www.ravensburger.de

Viola Roggenkamp: Familienleben

Deutsch-jüdisches Leben nach 1945

Hamburg 1967. In einer heruntergekommenen Villa leben in einer Wohnung drei Generationen unter einem Dach. Die Mutter Alma ist Jüdin und verdankt ihr Überleben im Dritten Reich genau wie ihre Mutter Hedwig ihrem  deutschen Mann Paul. Ihre Ängste spiegeln sich in ihrem Verhalten gegenüber ihren Töchtern wider: Fania, 13 Jahre, und Vera, 17 Jahre, dürfen Haus und Garten nur verlassen, wenn sie zur Schule gehen. Der Vater Paul ist die Woche über als Vertreter für Brillengestelle unterwegs. Die Verabschiedung am Montag und die überschwängliche Begrüßung am Freitag sind für alle die Höhepunkte der Woche.

Das Familienleben wird heftig erschüttert, als die Villa, in der sie zur Miete leben, zum Kauf angeboten wird. Um das fehlende Geld zu besorgen, sieht Alma sich gezwungen, ihre Abschottung von der Außenwelt zu lockern. Für die Töchter auf der Suche nach größerer Eigenständigkeit ist es die Gelegenheit, sich vorsichtig aus der zu großen Enge der familiären
Beziehungen zu lösen.

Erzählt wird das Leben der Familie von Fania. In ihren Problemen mit der deutschen Muttersprache spiegeln sich die Probleme aller mit der eigenen Identität und dem Land, in dem sie leben.

Familienleben ist der erste Roman der 1948 in Hamburg geborenen Viola Roggenkamp, die selbst aus einer deutsch-jüdischen Familie stammt. Sehr einfühlsam und manchmal auch witzig erzählt sie, wie Fania und Vera langsam der Ausbruch aus dem Familienkokon gelingt.

Viola Roggenkamp: Familienleben. Fischer 2007
www.fischerverlage.de

Richard Russo: Diese alte Sehnsucht

Wunsch und Wirklichkeit

Jack Griffin, 57-jähriger College-Professor, wollte nie wie seine Eltern werden. Doch schon seine Hochzeitsreise führt nach Cape Cod, deren jährlichem Traumziel…

34 Jahre später steckt Jack tief in der Midlife-Krise. Die Urne des Vaters hat er seit Monaten bei sich, die Mutter nervt ihn aus dem Pflegeheim und er muss erkennen, dass er genau ihr Leben und ihre Ehe führt.

Zwei Hochzeiten im Abstand von einem Jahr und zwei Bestattungen bilden den Rahmen dieses klugen Ehe- und Familienromans des Pulitzer-Preisträgers Russo, der Melancholie und Komik gleichermaßen viruos beherrscht.

Richard Russo: Diese alte Sehnsucht. DuMont 2010
www.dumont-buchverlag.de

Carolina de Robertis: Die unsichtbaren Stimmen

Eine packende Familiengeschichte aus Uruguay

Drei Frauen stehen im Mittelpunkt dieser Familiensaga aus Uruguay: Pajarita, die Großmutter, wird auf dem Land geboren und zieht mit ihrem italienischen Mann nach Montevideo, muss aber für ihre vier Kinder mehr oder weniger alleine sorgen. Eva, die Tochter, Dichterin und Intellektuelle mit traumatischen Jugenderlebnissen, flieht nach Argentinien, lebt dort in den Kreisen der Bohème, findet aber erst nach ihrer Rückkehr ihr Glück. Salomé, die Enkelin, schließt sich jung den Tupamaro-Rebellen an und durchleidet  die ganze Grausamkeit der Militärdiktatur.

So unterschiedlich ihre Lebenswege auch sind, alle drei Frauen kämpfen auf ihre Weise mutig um Unabhängigkeit.

In ihrem großartig erzählten, tief berührenden Romandebüt zeichnet Carolina de Robertis, US-Amerikanerin mit Wurzeln in Uruguay, die Umbrüche des 20. Jahrhunderts in Lateinamerika nach und lässt in südamerikanischer Erzähltradition Bilder, Geräusche und Gerüche lebendig werden.

Carolina de Robertis: Die unsichtbaren Stimmen. Fischer 2011
www.fischerverlage.de

Jakob Wassermann: Das Gänsemännchen

Ein Künstlerroman

Jakob Wassermann (1873 – 1934), Freund Thomas Manns, Hofmannsthals und Schnitzlers, feierte zu Lebzeiten große Erfolge. Leider ist der Franke heute fast vergessen.

In Das Gänsemännchen, einem frühen Roman Wassermanns, ist der arme Webersohn Daniel Nothafft aus der Nürnberger Gegend besessen davon, Musiker zu werden. Seine pathologische Selbstüberschätzung prallt auf bürgerliche Kleingeister, die nichts mehr fürchten als auffällige Außenseiter.

Nach einsamen, elenden Jahren findet er Gönner. Die Liebe zu zwei Schwestern trägt ihm den hämischen Spitznamen „Gänsemännchen“ ein, einer Nürnberger Marktfigur mit zwei Gänsen. Nach schweren privaten und künstlerischen Enttäuschungen zieht er sich schließlich mit seinen Kindern und treuen Schülern zurück.

Jakob Wassermann: Das Gänsemännchen. Europäischer Literaturverlag 2014
www.elv-verlag.de