James McBride: Das verrückte Tagebuch des Henry Shackleford

Ein Schelmenroman

Nachdem ich das vorhergehende Buch von James McBride, Die Farbe von Wasser, sehr gerne gelesen hatte und das neue Buch, Das verrückte Tagebuch des Henry Shackleford, sogar mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, hatte ich mich sehr auf die Lektüre gefreut. Hätte ich geahnt, dass es sich um einen Schelmenroman handelt, wäre ich vielleicht vorsichtiger gewesen, denn für dieses Genre konnte ich mich bisher weder bei Die Abenteuer des Huckleberry Finn noch bei Candide, Die Abenteuer des Simplicissimus oder bei Die Blechtrommel begeistern. Die bei dieser Literaturform oft gepriesenen komischen und satirischen Elemente entziehen sich vollständig meinem Humorverständnis und die langwierigen Lebensberichte können mich nicht fesseln.

Leider erging es mir auch in diesem Fall so, obwohl mich dieser Teil der amerikanischen Geschichte kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs und das Thema Sklaverei ausgesprochen interessieren. Es waren also ausschließlich Form und Sprache, die mir nicht zugesagt und mich nach einem flotten, unterhaltsamen Beginn sogar über weite Strecken ausgesprochen gelangweilt haben, nicht die Thematik.

Der Inhalt ist schnell erzählt. Kurz vor dem Ausbruch des amerikanischen Bürgerkriegs wird der Sklavenjunge Henry Shackleford „Opfer“ einer der gut gemeinten, aber brutal durchgeführten Sklavenbefreiungsaktionen des in den USA heute noch gut bekannten John Brown (1800 bis 1859). Sein Vater kommt dabei ums Leben, Henry selber landet bei eben jenem John Brown, religiöser Fundamentalist und bedingungsloser Abolitionist. Wie im Schelmenroman üblich, erzählt der fiktive Henry Shackleford die Geschichte seiner Jahre bei John Brown bis zu dessen Hinrichtung in der Ich-Form. Die sehr einfache Erzählsprache ist geprägt von einem derben Realismus ohne moralische Wertung und der Perspektive des sozial Unterprivilegierten. Die List, derer sich der Schelm in diesem Romangenre gerne bedient, ist bei Henry Shackleford seine Verkleidung als Frau, denn da er bei seiner Befreiung aufgrund des geschlechtsneutralen Kartoffelsacks, den er trägt, für ein Mädchen gehalten wird, bleibt er in den folgenden Jahren bei dieser Farce und genießt als Henrietta so manche Annehmlichkeit.

Ich bin überzeugt davon, dass Fans des Schelmenromans hier voll auf ihre Kosten kommen, denn James McBride bedient alle Facetten dieses Genres perfekt. Wer diese Art von Romanen allerdings nicht schätzt, sollte besser die Hände von dieser Geschichte lassen.

James McBride: Das verrückte Tagebuch des Henry Shackleford. btb 2015
www.randomhouse.de

Loung Ung: Der weite Weg der Hoffnung

Kindheit in der Diktatur der Roten Khmer

Loung Ung ist gerade fünf Jahre alt, als die kommunistischen Roten Khmer 1975 die Regierung in Kambodscha übernehmen. Ihre behütete Kindheit in einer gutsituierten Mittelstandsfamilie in Phnom Penh endet schlagartig.

Die folgenden fünf Jahre sind geprägt von immer neuer Vertreibung, Todesangst, Hunger und Gewalt. Die Familie wird auseinandergerissen, Vater, Mutter und zwei Schwestern kommen um.

Als die Schreckensherrschaft Pol Pots 1979 zu Ende geht, gelingt Luong Ung die Flucht nach Vietnam und von dort weiter in die USA, wo sie heute als Menschenrechtsaktivistin aktiv ist.

Der weite Weg der Hoffnung ist gleichzeitig die tief berührende Schilderung eines verzweifelten Überlebenskampfes aus der Sicht des Kindes und die Aufarbeitung des erlebten Schreckens der inzwischen erwachsenen Autorin.

Loung Ung: Der weite Weg der Hoffnung. Fischer 2002
www.fischerverlage.de

Thomas Jeier: Die ersten Amerikaner

Schluss mit den Klischees

Aus der jugendlichen Begeisterung für Winnetou erwuchs bei Thomas Jeier ein teifgreifendes Interesse an den Völkern der Indianer. Seine Sachbücher, historischen Romane und Reisebücher wurden mehrfach ausgezeichnet und er gilt auch in den USA als „einer der besten Amerika-Kenner der Alten Welt“.

Die spannend und flüssig zu lesende Geschichte und Kultur der Indianer mit deutlichem Schwerpunkt in den USA reicht von der ersten Besiedlung bis zu den heute oft desillusionierenden Lebensumständen und räumt mit vielen Klischees auf.

Thomas Jeier: Die ersten Amerikaner. DVA 2011
www.randomhouse.de

Sylvie Liebsch & Timo Grubing: Das fantastische Reisebüro – Mit Elfie um die Welt

Folge deinem inneren Kompass

Elfie, elftes von elf Kindern einer turbulenten Kölner Familie und am 11.11. um 11.11 Uhr geboren, muss sich um die Stimmung an ihrem Geburtstag keine Sorgen machen. Doch so überwältigend wie an ihrem 11. Geburtstag ist selbst sie es nicht gewohnt.

Alles beginnt damit, dass sie sich beim Straßenkarneval inmitten der verkleideten Menge mit einem Jungen um einen Freibon für eine Cola streitet. Als sie sich schließlich einigen und gemeinsam zum Getränkestand gehen, fällt ihnen ein seltsames Paar mit einem Fotoapparat auf und kurze Zeit später finden sich Elfie und Jonas, die unterschiedlicher kaum sein könnten, inmitten eines großes Abenteuers. Mit Hilfe des fantastischen Reisebüros erfüllt sich Elfies sehnsüchtigster Wunsch nach einer großen Reise. Kaum haben sie den großen Globus berührt, sich an den Händen gefasst und das Wort „hierhin“ ausgesprochen, sind sie auch schon mitten in den Indischen Ozean vor Mauritius „geflirrt“. Doch wie sie bald merken, sind die Kunden des fantastischen Reisebüros keineswegs zum Vergnügen unterwegs, sondern haben eine Mission zu erfüllen. Aber welche ist ihre?

Mir hat die Mischung aus Realität und Fantasy in diesem Kinderbuch ab ca. acht Jahren sehr gut gefallen. Die Geschichte ist bis hin zu Kleinigkeiten logisch aufgebaut, sehr gut durchdacht und ebenso unterhaltsam wie spannend erzählt. Die unterschiedlichen Charaktere der spontanen, draufgängerischen Elfie mit dem großen Mundwerk und dem eher überlegt abwartenden und beobachtenden Jonas sind gut herausgearbeitet. Die Reiseziele Mauritius und Dänemark, in die Elfie und Jonas in diesem ersten Band flirren, werden anschaulich vorgestellt, ohne dass das Buch deshalb wie ein Reiseführer wirkt. Und die Mission, die sie schließlich erkennen und beherzt angehen, wird die kleinen Leserinnen sicherlich anrühren.

Nicht ganz meinen Geschmack treffen die Schwarz-Weiß-Illustrationen im Inneren. Sehr schade finde ich auch, dass dieses Buch durch das stark auf den Mädchengeschmack ausgelegte Cover kaum männliche Leser finden dürfte, obwohl der Inhalt durchaus jungstauglich ist. Zum wiederholten Mal verstehe ich nicht, warum die Verlage sich so oft einem Teil des Markts bewusst verschließen.

Trotzdem: Es wäre sehr schön, wenn wir in weiteren Bänden mit Elfie und Jonas reisen – Entschuldigung: flirren – dürften!

Sylvie Liebsch & Timo Grubing: Das fantastische Reisebüro – Mit Elfie um die Welt. Planet girl 2015
www.thienemann-esslinger.de

Nathaniel Hawthorne: Der scharlachrote Buchstabe

Doppelmoral und Sünde

Um 1650 kommt Hester Prynne ohne ihren verschollenen Ehemann ins stark puritanisch geprägte Boston. Als Strafe für ihr uneheliches Kind, dessen Vater sie nicht preisgibt, muss sie an den Pranger und lebenslang ein gesticktes „A“ auf der Brust tragen.

Während die starke, selbstbewusste Frau allmählich die Achtung ihrer Nachbarn zurückgewinnt, lebt der angesehene aber schwache Kindsvater mit seinem Schweigen und der subtilen Rache des inkognito zurückgekehrten Ehemanns.

Ein immer noch aktueller, fesselnder Klassiker des Amerikaners Nathaniel Hawthorne (1804 – 1864), einem Wegbereiter des psychologischen Romans, über Doppelmoral und Sünde.

Nathaniel Hawthorne: Der scharlachrote Buchstabe. Insel 2004
www.suhrkamp.de

Frank Kauffmann & Beate Fahrnländer: Tsozo und die fremden Wörter

Wie die Wörter zu uns kommen

Tsozo ist mit seinen Eltern in ein deutschsprachiges Land eingewandert. Fern der vertrauten Umgebung, der Verwandten und Freunde fühlt er sich sehr einsam, vor allem, weil er die neue Sprache nicht versteht. Ein Telefonat mit seiner Großmutter und ihr Rat, die neue Sprache einfach zu sich kommen zu lassen, Geduld zu üben und die Ohren zu spitzen, macht ihm Mut. Und siehe da, das erste Wort findet auf dem Spielplatz zu ihm: „Tor“. Und als die erste Hürde genommen ist, folgen weitere Wörter, im Text jeweils rot abgedruckt. Doch nicht nur Tsozo ist aufgeschlossen, auch die anderen Kinder gehen offen auf ihn zu und beziehen ihn ganz unvoreingenommen ein. Als eine Notsituation eintritt, kann er mit seinem gelernten Vokabular bereits Hilfe holen und wird zum Retter und Helden.

Tsozos Familie ist keine der Flüchtlingsfamilien, die im Moment in Deutschland in Massenunterkünften unterkommen, sondern zieht sofort in eine eigene Wohnung und scheint finanziell abgesichert zu sein. Der Autor Frank Kauffmann verzichtet sicher bewusst auf Tsozos Vorgeschichte und konzentriert sich ausschließlich auf die Themen Spracherwerb und Integration, um die kleinen Leserinnen und Leser nicht zu überfordern. Dies finde ich sehr gut gelungen.

Durch die große Schrift, wenig Text und die ausgesprochen reiche, durchgehend farbige und sehr kindgerechte Illustrierung ist das Buch für Kinder ab ca. dem zweiten Schuljahr selbständig zu bewältigen. Gleichzeitig eignet es sich jedoch auch schon für Fünfjährige zum Vorlesen und kann bei älteren Migrantenkindern eingesetzt werden.

Für mich war dies das erste Kinderbuch aus dem Schweizer Verlag Orell Füssli und es hat mir sowohl von der Bearbeitung des Themas als auch von der Ausstattung her ausnehmend gut gefallen.

Frank Kauffmann & Beate Fahrnländer: Tsozo und die fremden Wörter. Orell Füssli 2015
ofv.ch

Horst Eckert: Sprengkraft

Ein explosiver Politkrimi

Drei Handlungsstränge fügt der studierte Politikwissenschaftler und Fernsehjournalist des WDR Horst Eckert gekonnt zu einem spannenden Thriller zusammen.

Da sind einmal die beiden Polizisten Martin Zander und Anna Winkler, die in einem ungelösten Altfall, einem „Cold Case“, im Drogenmilieu ermitteln, bei dem es offensichtlich in Polizeikreisen einen Maulwurf gab.

Bei ihren Ermittlungen stoßen sie auf den Bruder eines ermordeten marokkanischen Dealers, der sich zu einem radikal-islamischen Fundamentalisten entwickelt hat und zusammen mit Gleichgesinnten einen Bombenanschlag plant.

In einem dritten Handlungsstrang wird der arbeitslose Journalist Moritz Lembke von einem Düsseldorfer Baulöwen damit beauftragt, der rechtspopulistischen, anti-islamischen Partei „Die Freiheitlichen“ mit Hilfe einer  CDU-Aussteigerin ein demokratisches Etikett zu verpassen und sie in den Landtag von NRW zu bringen. Der Bau der Kölner Moschee soll verhindert werden.

Ein überaus spannender Krimi mit kurzen Kapiteln aus wechselnden Perspektiven und einer hochaktuellen Thematik und einer Prise Satire!

Horst Eckert: Sprengkraft. grafit 2011
www.grafit.de

Karla Schneider: Die Geschwister Apraksin

Fünf Kinder in den Wirren der Russischen Revolution

Russland 1918/19. Die fünf Kinder der Moskauer Kaufmannsfamilie Apraksin sind elternlos geworden. Ihr Besitz soll von den neuen Machthabern konfisziert und sie selbst in verschiedenen Kinderheimen untergebracht werden. Doch sie sind nicht bereit, sich in ihr Schicksal zu ergeben.

Mit nichts als den Kleidern auf dem Leib, je einem kleinen Gepäckstück und wenigen Goldkopeken fliehen sie nachts mit einer Schauspielertruppe. In einem Eisenbahnwagon mit Demobilisierten erreichen sie nach wochenlanger Irrfahrt Rostow am Don, wo die jüngste und die älteste Schwester verloren gehen. Zu dritt geht es weiter auf die Krim. Bei Jalta finden Polly, Ossja und Fedja Unterschlupf in einer Schule für obdachlose Kinder. Als der Terror auch dorthin gelangt, kehren sie auf abenteuerlichen Wegen zurück ins Moskau der Schieberkönige und Emporkömmlinge.

Karla Schneider hat auf fast 600 Seiten ein durchweg spannendes Jugendbuch voller unglaublicher, haarsträubender, trauriger, aber manchmal auch komischer Abenteuer geschrieben, das vom Überleben in einer Zeit des völligen gesellschaftlichen Umbruchs erzählt. Dabei ist es ihr gelungen, alle Haupt- und Nebenfiguren so lebendig zu gestalten, dass sie uns schnell vertraut werden.

Karla Schneider: Die Geschwister Apraksin. dtv 2011
www.dtv.de

Jean Renard: Der Kopf des Korsen

Weit mehr als ein gewöhnlicher Regionalkrimi

Jacques Andreotti, verwitwet und alleinerziehender Vater einer pubertierenden Tochter, Pariser Polizist mit korsischen Wurzeln, erschlägt im Dienst den Sohn des Pariser Paten Guido deFrancesco und enttarnt dabei unfreiwillig den jungen Undercover-Ermittler Andrea Lefèvre. Da ein Kopfgeld auf beide ausgelobt wird, müssen sie untertauchen. Um ihnen das Zeugenschutzprogramm zu ersparen, versetzt der Pariser Polizeichef sie als Sonderermittler im Falle eines Polizistenmords, der vermutlich aus einer Vendetta zwischen zwei verfeindeten Clans resultiert, nach Korsika, nicht ohne zuvor falsche Spuren zu legen und beide mit den neuesten technischen Raffinessen auszustatten.

Während Andreotti, dessen Tochter auf Korsika die Ferien bei ihrer kauzigen Großmutter verbringt, die Zwangsversetzung noch einigermaßen akzeptiert, ist der junge Lefèvre von der Verbannung geschockt. Obwohl clever und draufgängerisch, kommt er mit den Korsen und Andreottis Ermittlungsmethoden schlecht zurecht, grollt ihm wegen der Enttarnung und verdächtigt ihn sogar der Bestechlichkeit.

Ich habe diesen Krimi ursprünglich wegen des Handlungsorts Korsika in die Hand genommen, den ich aus mehreren Urlaubsaufenthalten einigermaßen gut kenne. In dieser Beziehung bin ich voll auf meine Kosten gekommen, denn Land und Leute, Geografie, Stimmungen und das Meer sind wunderbar anschaulich beschrieben. Das Buch geht jedoch mit seiner komplexen Handlung, die auch auf fast 500 Seiten durchweg gut unterhält, weit über einen gewöhnlichen Regionalkrimi hinaus. Von der großartig atmosphärischen Schilderung der Beerdigung eines Clanmitglieds im (fikitiven) Ort La Rocca, während der auf dem leeren Dorfplatz ein Polizist aus dem anderen Clan ermordet wird, bis zum langen, unglaublich spannenden Showdown auf den Klippen, unter Wasser und in der Luft bleibt die Spannung auf hohem Niveau. Dabei verzichtet der deutsche Autor und Journalist Jean Renard (d.i. Hans Fuchs) dankenswerterweise trotz zahlreicher Toter auf unnötig blutige Details. Sehr detailliert und beim Lesen eines der absoluten Highlights sind dagegen seine  Charakterbeschreibungen, egal ob es sich dabei um die Hauptfiguren Andreotti und Lefèvre, die von den Schatten ihrer Vergangenheit heimgesucht werden, oder um Nebenfiguren wie Andreottis bissige Schwiegermutter, seinen Freund Roland, Ex-Legionär und Inhaber einer Tauchschule, seine Tochter Cécile, die Clanmitglieder, der Dorfpolizist von La Rocca, die Restaurantbesitzer Paul et Paul oder jede andere Figur handelt.

Ein großartiger Krimi, der eine Fortsetzung unbedingt erforderlich macht!

Jean Renard: Der Kopf des Korsen. Emons 2015
www.emons-verlag.de

Paula Fox: Pech für George

Ein Roman über das Leben in den USA der 1960er-Jahre

George Mecklin, 34, ist Lehrer an einer Privatschule in Manhattan und von seinem Beruf und seiner Ehe gleichermaßen gelangweilt. Der Umzug aufs Land, den er „glaubte machen zu müssen“, hat diese Langeweile bis ins Unerträgliche verschärft. Mit seiner Frau Emma verbindet ihn nur noch eine beinahe sprachlose Gleichgültigkeit.

Rettung scheint ihm der 17-jährige Ernest Jenkins zu bringen, ein Jugendlicher aus dem Nachbarort, Schulabbrecher und Mitglied einer Jugendgang, den er beim Eindringen in sein Haus erwischt. Anstatt ihn, wie Emma es vehement fordert, der Polizei zu übergeben, beschließt George, ihn zu retten. Er will ihn unterrichten, sein Leben in die Hand nehmen – und damit seinem eigenen Leben wieder einen Sinn geben.

Pech für George ist Paula Fox erster Roman aus dem Jahr 1967. Lebendig
und mit z. T. beißender Ironie erzählt Paula Fox vom Scheitern ihrer Figuren, die alle eher von ihren eigenen Katastrophen erzählen als dem anderen zuzuhören.

Paula Fox: Pech für George. dtv 2006
www.dtv.de