Jocelyne Saucier: Ein Leben mehr

„Wie viel Zeit bleibt uns wohl?“

So außergewöhnlich wie das ausdrucksstarke Cover mit dem vom Leben gezeichneten, in sich ruhenden alten Mann ist der kleine Roman der Franko-Kanadierin Jocelyne Saucier. Sie lebt selber in einem winzigen Dorf in den kanadischen Wäldern und hat die WG ihrer drei Aussteiger ebendort angesiedelt.

Der Gemeinschaft der drei alten Männer, die sich von der Zivilisation verabschiedet haben und völlig selbstbestimmt und überwiegend als Selbstversorger auf drei benachbarten Waldlichtungen leben, liegt der Wunsch nach größtmöglicher Freiheit zugrunde. Sie möchten im Alter nicht „verwaltet“ werden und um gegebenenfalls auch den Zeitpunkt ihres Todes selber wählen zu können, hat jeder von ihnen eine Dose mit Strychnin über dem Bett. Ihre einzige Verbindung zur Außenwelt sind der junge Bruno, der bei ihnen eine florierende Hanfplantage unterhält und dafür wichtige Einkäufe für sie macht, und Steve, Pächter eines kaum frequentierten Hotels in der Umgebung.

Alle haben sich in diesem Leben eingerichtet, sind zufrieden, wenn nicht sogar glücklich, auch wenn der Tod jederzeit präsent ist. Doch dann geschehen plötzlich Dinge, die ihre Welt und ihr Dasein noch einmal komplett auf den Kopf stellen. Zuerst stirbt einer der Alten, der stille Ted, Überlebender des Großen Brandes von 1916 und Maler. Dann stößt eine jüngere Fotografin zu der Gruppe, die auf der Suche nach ebensolchen Überlebenden ist und sich nicht so leicht abschütteln lässt, und schließlich bringt Bruno auch noch seine alte Tante vorbei, die über 60 Jahre in der Psychiatrie festgehalten wurde und nun ihr erstes Leben beginnen möchte. Durch die Anwesenheit der beiden Frauen wird das Leben der kleinen Gemeinschaft komplett umgekrempelt und die Präsenz des Todes tritt unmerklich in den Hintergrund. Dafür zieht auf einmal die Liebe ein, ein Gefühl, mit dem sicher keiner mehr gerechnet hatte…

Jocelyne Saucier hat einen sprachlich herausstechenden, variantenreich erzählten und sehr feinsinnigen, poetischen Roman über Leben und Tod, Freiheit und Liebe geschrieben. Ohne jede Verklärung erzählt sie einfühlsam von den Mühen und der Traurigkeit des Alters, aber auch von dessen Chancen und Möglichkeiten. Dabei möchte man immer wieder einen Stift zur Hand nehmen, um die vielen wunderbaren Sätze zu markieren.

Auch wenn ich mich den ganz euphorischen Rezensionen nicht anschließen kann, möchte ich das kleine Buch doch wärmstens allen empfehlen, die abseits der Bestseller nach kleinen Perlen suchen.

Jocelyne Saucier: Ein Leben mehr. Insel 2015
www.suhrkamp.de

Claudine Le Tourneur d‘ Ison: Hira Mandi

Wo Jungen nichts wert sind

Ein Leben wie das einer „Kanalratte“, ausgehalten von Müttern, Schwestern, Tanten und Kusinen, führen die Söhne in Lahores Vergnügungsviertel Hira Mandi, dem „Markt der Diamanten“. Hier, wo die Kinder keine Väter haben, träumen die Frauen davon, so viele Mädchen wie möglich zur Welt zu bringen, um nach dem Verblassen ihrer eigenen Schönheit von ihnen finanziell versorgt zu werden.

Dieses Schicksal scheint auch dem jungen Chanwaz bestimmt, denn aus dem Viertel der Tänzerinnen und Kurtisanen gibt es eigentlich kein Entrinnen. Geboren 1936, erlebt er als Kind die Teilung Indiens und die Gründung der islamischen Republik Pakistan und wird früh mit blutigen Massakern, Flucht und Vertreibung konfrontiert. Doch Chanwaz wehrt sich gegen die Perspektivlosigkeit, die viele Gleichaltrige in die Drogensucht treibt. Er lernt Lesen, Schreiben und Englisch und beginnt zu malen. Was zuerst nur belächelt wird, gibt ihm selber Halt und lässt ihn zum bekanntesten Maler Pakistans aufsteigen. Da er auf seinen Bildern das Elend seines Viertels und das Leben und Leiden der von der Gesellschaft ausgestoßenen Frauen zeigt, erregt er zunehmend das Missfallen der Mullahs.

Claudine Le Tourneur d’Ison kennt als Reisejournalistin das Land Pakistan sehr gut. Ihrem ersten Roman liegt das Leben des bekanntesten Malers Pakistans und Regimekritikers Iqbal Hussain zugrunde, den sie bei ihren Aufenthalten getroffen hat. Geschickt verknüpft sie Chanwaz’/Iqbals Leben mit der Biografie eines zerrissenen Landes von 1936 bis heute.

Claudine Le Tourneur d‘ Ison: Hira Mandi. Wagenbach 2006
www.wagenbach.de

Anna Lott: Luzies verrückte Welt

Auftakt einer starken Mädchenbuchreihe

Eine schwierige Perspektive hat sich die Autorin Anna Lott für ihr Kinderbuchdebüt ausgesucht, denn sie schreibt aus der Sicht ihrer neunjährigen Protagonistin, der frischgebackenen Drittklässlerin und stolzen Zimmer- und Nacktmeerschweinchen-Besitzerin Luzie. Dass ihr diese Ich-Perspektive so durchgängig gut geglückt ist, zeigt, dass sie die schwierige Kunst des Kinderbuchschreibens beherrscht und sich die Fähigkeit, die Welt aus dem unverstellten Blickwinkel eines Kindes zu sehen, bewahrt hat.

Luzie ist klein und zart für ihr Alter, aber ein starkes und mutiges Mädchen. Ihre große Liebe gilt den Tieren. Geborgen in einer bisweilen zwar chaotischen aber dennoch sehr liebevollen Familie, tritt sie den Anforderungen des Alltags entgegen. Doch nicht nur ihre Eltern, auch die beste Freundin Bella und ihr geliebtes Nacktmeerschweinchen Herkules geben ihr Halt. Und den braucht sie, denn der schlimmste Junge ihrer Schule, der Anführer der gefürchteten Horrorbande, Leon, zieht ausgerechnet in ihre Nachbarwohnung. Was weder die Eltern noch die Lehrerin glauben wollen: Leon, der so wohlerzogen auftreten kann und Gedichte rezitiert, mobbt mit seiner Bande schwächere Mitschüler so, dass sie schließlich die Schule verlassen. Luzie fürchtet zu Recht, dass sie das nächste Opfer wird.

Wie sie dieser Bedrohung gegenübertritt und wie Leon den Bogen schließlich so überspannt, dass ihm auch die gutgläubigen Erwachsenen mit Luzies und Bellas Hilfe auf die Spur kommen, erzählt Luzie unbefangen und ehrlich auch dann, wenn sie sich für ihre Gefühle schämt. Ihrem und Bellas Ideenreichtum und Mut ist es zu verdanken, dass das Gute am Ende siegt.

Anna Lott hat ein Kinderbuch mit einer sehr positiven, optimistischen Botschaft geschrieben, auch wenn die beiden Hauptthemen Mobbing und Tierquälerei schwere Kost sind. Mit ihrem ansteckenden Humor schafft sie es, dass nicht nur Luzie und Bella, sondern auch Leserinnen und Leser jeden Alters viel Spaß haben. Dazu tragen auch die durch ihre Frische und Fantasie sehr gut zum Text passenden, sehr zahlreichen Schwarz-Weiß-Illustrationen von Lucie Göpfert bei, die oft noch einmal einen neuen Denkanstoß zum Text geben.

Als einziges Problem sehe ich bei diesem Buch die Diskrepanz zwischen Textmenge und Zielalter. Erstleser werden hier in der Regel kapitulieren und die vom Inhalt her angesprochenen Zweit- und Drittklässler werden ordentlich gefordert. Aber zur Not gibt es ja noch uns, die Vorleser, die nebenbei noch reichlich Diskussionsstoff finden…

Anna Lott: Luzies verrückte Welt. dtv 2015
www.dtv.de

Jörg Maurer: Föhnlage

Saukomisch

Lieben Sie Kabarett? Und lesen Sie gerne flotte, gut durchdachte Krimis? Dann ist Föhnlage, der Debütkrimi des bayerischen Musikkabarettisten Jörg Maurer und Start der Serie um Kommissar Jennerwein genau die richtige Lektüre für Sie.

Zur Handlung: Im vollbesetzten Konzertsall eines idyllischen bayerischen Alpen-Kurorts wird ein zu spät kommender Gast von einem durch die Decke stürzenden Portier erschlagen. Die zahlreich anwesenden Ärzte verwischen die Spuren, sodass Polizeihauptkommissar Hubertus Jennerwein und sein Team vor einem Rätsel stehen, zumal die Zeugenaussagen äußerst widersprüchlich sind. Alles schein möglich: Unfall, Selbstmord oder Mord. Was hatte der unbeliebte Portier aus Sachsen überhaupt auf dem Dachboden zu suchen? Und welchen ebenso mysterösen wie lukrativen Geschäften geht eigentlich das biedere, alteingesessene Bestatterehepaar Ursel und Ignaz Grasegger nach?

Föhnlage ist nicht einfach ein weiterer Regionalkrimi, sondern eine von Anfang bis Ende spannende, skurrile und pointierte Lektüre voller gut herausgearbeiteter, schräger Charaktere und brillanter Dialoge für alle, die auch schwarzen Humor mögen. Ich habe mich jedenfalls köstlich amüsiert!

Jörg Maurer: Föhnlage. Fischer 2009
www.fischerverlage.de

Rolf Dobelli: Himmelreich

Realität und Traum

Himmelreich, aufstrebender Schweizer Banker, 42, verheiratet mit einer erfolgreichen Juristin („Wir sind mehr ein Projektteam als ein Paar“), beginnt eine Affäre mit einer Frau, die gar nicht in sein perfekt strukturiertes Leben passt. Als er in New York einen Karrieresprung machen kann, ergreift er diese Möglichkeit aus Ehrgeiz, aber auch als Flucht und Rettungsanker für seine Ehe. Doch schon auf dem Flug beginnt er, von einem anderen Ausgang seiner Beziehung zu träumen, und während er beruflich überaus erfolgreich ist, vermischen sich für ihn und für den Leser Realität und Fiktion immer mehr…

Himmelreich
ist für mich als Dobelli-Fan nicht sein bester Roman, aber durchaus lesenswert. Er erinnert an Homo Faber und daran, dass es im Leben immer wieder Punkte gibt, an denen man mit einer Entscheidung alles verändern kann.

Rolf Dobelli: Himmelreich. Diogenes 2008
www.diogenes.ch

Laura Thompson: Agatha Christie

Auf den Spuren von Agatha Christie

Sie schuf unsterbliche Persönlichkeiten wie Hercule Poirot und Miss Marple, ging bei der Auflösung ihrer Kriminalfälle ganz neue Wege, lockte ihre Leser auf falsche Spuren und schrieb mit der Mausefalle das meistaufgeführte Theaterstück: die „Lady of Crime“ Agatha Christie (1890 – 1976).

Laura Thompson hat sich, von Sympathie getragen und trotzdem kritisch-distanziert, auf die Spuren der privat eher zurückhaltenden Autorin begeben und dazu erstmals ihre Briefe und Notizen eingesehen. Sehr ausführlich und mit unzähligen Zitaten aus ihren Werken unterlegt schildert Thompson Agathas von Geldnot geprägte Kindheit und Jugend in der viktorianischen Oberschicht, ihre beiden Ehen, das Verhältnis zu ihrer Tochter, ihre Reisen sowie die Entstehung ihres umfangreichen schriftstellerischen Werkes.

Laura Thompson: Agatha Christie. Scherz 2010
www.fischerverlage.de

Friedrich Ani: Der namenlose Tag

Düstere Spannung und sprachliche Brillanz

Jakob Franck, seit zwei Monaten pensionierter Kriminalhauptkommissar, lebt schon länger wie ein Einsiedler in seiner nach seiner Scheidung eigentlich zu großen Münchner Wohnung. Auch nach seinem Abschied aus dem Polizeidienst besuchen ihn „seine“ Toten. Er hat wenig Kontakte nach außen, spielt lieber in der virtuellen Welt Poker in seinem Arbeitszimmer, das nie ein Kinderzimmer geworden ist.

Es gibt nur eine Situation, in der er Menschen richtig nahe gekommen ist: beim Überbringen von Todesnachrichten. Er hat diese von allen Kollegen gefürchtete Aufgabe freiwillig übernommen, hat Hinterbliebene aufgesucht und hat ihnen, nachdem er seinen Standardsatz gesagt hatte, auf die ihm angemessen erschienene Art und Weise beigestanden. So hat er die Mutter der erst 17-jährigen Esther, die sich vor über 20 Jahren mutmaßlich im Park erhängt hatte, sieben Stunden in den Armen gehalten.

Genau dieser Fall holt ihn nun in seinem Ruhestand wieder ein. Der Vater des Mädchens, der nie an den von der Polizei festgestellten Selbstmord glauben wollte, bittet ihn, den alten Fall noch einmal aufzurollen. Einen Verdächtigen liefert er gleich mit, einen benachbarten Zahnarzt, über dessen Verbindungen zu sehr jungen Mädchen gemunkelt wurde.

Francks Ehrgeiz ist geweckt, der Ermittler kommt wieder zum Vorschein. Mit Freiheiten, die er während seines aktiven Dienstes nicht hatte, und mit viel Zeit beginnt er, Nachforschungen zu dem Fall anzustellen. Er holt die alten Akten hervor, befragt Zeugen von damals und bedient sich seiner besonderen Methoden, der „Gedankenfühligkeit“, mit der er sich in Täter und Opfer hineinversetzt. Seine ungewöhnlich einfühlsame Befragungsweise und seine ruhige Art ermöglichen es den Gesprächspartnern, sich an längst vergessen geglaubte Details zu erinnern, so dass Franck trotz der langen Zeit viele neue Ermittlungsansätze findet und am Ende zu einer überraschenden Erkenntnis kommt.

Neben dem reinen Fall vermittelt Ani dem Leser anhand verschiedener Beispiele eine Ahnung davon, welche zerstörerische Auswirkungen ein Selbstmord auf das weitere Leben der Zurückbleibenden hat.

Der neue Krimi von Friedrich Ani sticht aus der Masse vor allem durch seine sprachliche Brillanz und die Qualität der Dialoge hervor. Die düstere Atmosphäre und die ruhige Spannung sind nichts für Thriller-Fans, aber sehr empfehlenswert für Anhänger detailreicher Kriminalliteratur.

Friedrich Ani: Der namenlose Tag. Suhrkamp 2015
www.suhrkamp.de

Håkan Nesser: Dödens och suckarnas stad. Ett stillsamt litet mord. Ormblomman.

Krimis in einfachem Schwedisch

Drei Kurzgeschichten von Håkan Nesser werden hier in einfachem Schwedisch für alle ab Niveau A2 nacherzählt. Kurze, einfach aufgebaute Sätze, übersichtliche Zeilen und Absätze und bekanntes Vokabular erleichtern die Lektüre.

In der ersten Geschichte, „Dödens och suckarnas stad“, erlebt ein Schriftsteller in Venedig seinen ganz persönlichen Krimi, in „Ett stillsamt litet mord“ wird ein eifersüchtiger Ehemann zum Mörder und in der dritten Geschichte, „Ormblomman“, die mir am besten gefallen hat, wird ein lange zurückliegender Vermisstenfall aufgeklärt.

Auf Wortangaben wurde verzichtet, was in meinen Augen kein Nachteil ist.

Vier Sterne vergebe ich, weil mir der in der gleichen Reihe erschienene Band von Henning Mankell noch besser gefallen hat.

Håkan Nesser: Dödens och suckarnas stad. Ett stillsamt litet mord. Ormblomman. Groa 2011
www.groa.de

Katja Frixe: Rocco & Pepe – Rette sich wer kann!

Leider kein empfehlenswertes Kinderbuch

Es tut mir leid, dass ich für dieses sehr hübsch und fetzig gestaltete Buch nur äußerst knappe drei Sterne vergeben kann. Dabei hatte ich mich auf das Buch sehr gefreut, denn es gibt eindeutig zu wenige Bücher für Jungs und der Text auf der Buchrückseite klingt sehr vielversprechend.

Zuerst trotzdem, was mir gut gefallen hat. Rocco und Pepe sind zwei sehr aufgeweckte Viertklässler mit viel Fantasie und Kreativität, die ihre Tage nicht vor dem Computer verbringen. Außerdem kann die Autorin flüssig und unterhaltsam schreiben, so dass es Kindern ab der dritten Klasse gut möglich sein müsste, das Buch zu lesen.

Nun aber zu meiner Kritik. Rocco und Pepe werden als „Quatschweltmeister“ angekündigt, darunter hatte ich mir einfallsreiche Jungs vorgestellt, die anderen gerne lustige(!) Streiche spielen. Kennengelernt habe ich dagegen Zwillinge, die rücksichtslos mit ihren Rädern die Straße entlang räubern, natürlich ohne Helm, von der sie meinen, dass sie ihnen allein gehört, die ohne Skrupel und vor allem ohne nachzudenken machen, wozu sie gerade Lust haben, und die einen Freund dazu zwingen, getrocknete Mehlwürmer zu essen. Die Streiche sind zwar fantasievoll, aber bei weitem zu bösartig, um tatsächlich lustig zu sein. In der Schule demonstrieren sie Desinteresse („Lieber sechs Stunden Schule als gar keinen Schlaf“) und bringen die Lehrerin zur Verzweiflung. Rocco rühmt sich eines Diebstahls, den er zwar nicht begangen hat, es scheint aber doch zu reichen, um vor seinem Bruder und seinen beiden Freunden gut dazustehen. Dies alles bleibt unkommentiert so stehen. Möglich wird es, weil sie von zu Haus unter keinerlei Aufsicht stehen, da die Mutter pausenlos geschäftlich unterwegs ist und der Vater mit vier Kindern und dem Haushalt anscheinend völlig überfordert ist oder keine Lust hat.

Obwohl sich im zweiten, deutlich besseren Teil des Buches zeigt, dass die beiden Jungs so etwas wie ein Gewissen haben, sehe ich sie ohne Erziehung als genau die unsympathischen und nur auf ihr eigenes Vergnügen zentrierten Jugendlichen und späteren Erwachsenen, die unsere Gesellschaft absolut nicht brauchen kann.

Natürlich kann man sich überlegen, ob das Buch, zusammen mit den Eltern gelesen, vielleicht eine Diskussionsgrundlage sein könnte. Das ist nach meiner Erfahrung als Mutter und als Buchhändlerin aber völlig illusorisch. Der Prozentsatz der Eltern, der jedes Buch mit den Kindern mitliest, geht nach meiner Schätzung gegen null. Hier wäre es allerdings unbedingt nötig.

Ich möchte weder bestreiten, dass es solche Kinder wie Rocco und Pepe gibt, noch dass Kinder bei der Lektüre Spaß haben können. Ich bin allerdings der Meinung, dass Helden in Kinderbüchern bis zu einem gewissen Grad als Vorbild taugen sollten, denn Kinder identifizieren sich mit ihnen, und das ist bei Rocco und Pepe überhaupt nicht wünschenswert. Ich würde dieses Buch deshalb keinem Kind in die Hand geben, denn es gibt andere, wirklich lustige Alternativen.

Katja Frixe: Rocco & Pepe – Rette sich wer kann! Dressler 2015
www.dressler-verlag.de

Arno Surminski: Vaterland ohne Väter

Wer war Robert Rosen?

Rebeka Lange gehört zu den Millionen Soldatenkindern des Zweiten Weltkrieges, die ihre Väter nie kennengelernt haben. Mit 60 Jahren begibt sie sich auf Spurensuche, nicht ohne Angst, den Vater Robert Rosen als Täter zu entlarven. Nach einem Jahr der Recherche kann sie für ihn einen Nachruf in die Zeitung setzen: „Ich suchte Mörder und fand Menschen“.

Arno Surminskis Roman überzeugt mich sowohl wegen des exzellent ausgeführten Themas als auch wegen der angewandten Montagetechnik. Da sind einmal Rebekas Recherchen, die die letzten Lebensmonate des Vaters im Russlandfeldzug und das Leben der Familie zu Hause in Masuren nachzeichnen. Roberts Tagebuch, sein Briefwechsel und der von zwei Kameraden spiegeln glaubhaft die Stimmungslage an der Front und zu Hause wieder. Parallel dazu hat Surminski Tagebuchnotizen eines westfälischen Soldaten Napoleons eingebaut, der 1812 am Russlandfeldzug teilgenommen hat. Die Aktualität des Themas wird nicht zuletzt an Rebekas Sohn deutlich, der als Soldat im Kosovo stationiert ist und Vergleiche seiner Friedensarmee mit der Wehrmacht des Großvaters ablehnt. Rebeka dagegen ist am Ende überzeugt, dass alle Kriege miteinander verwandt sind und einer den anderen nach sich zieht wie eine ansteckende Krankheit.

Ein empfehlenswerter Roman, aber nicht der beste von Arno Surminski.

Arno Surminski: Vaterland ohne Väter. Ullstein 2004
www.ullsteinbuchverlage.de